© Witalij Sytsch in seiner Redaktion in Kiew, das Fenster hinter ihm ist zum Schutz vor umherfliegenden Splittern abgeklebt

Interview | Journalist Witalij Sytsch über sein Jahr im Krieg

»Sport und Reden sind die zwei Dinge, die mir gerade helfen, nicht verrückt zu werden«

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine jährt sich in diesen Tagen. Die Folgen des Kriegs stellen Journalistinnen und Journalisten der Ukraine tagtäglich vor große Herausforderungen. DIE ZEIT, ZEIT ONLINE und die Handelsblatt Media Group haben kurz nach Kriegsbeginn im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem »Tagesspiegel« das unabhängige ukrainische Medienhaus »NV« finanziell unterstützt. Denn das gedruckte Magazin der »NV« musste eingestellt werden, »NV«-Redakteure wurden zum Militär eingezogen oder haben sich der Territorialverteidigung angeschlossen. Kurzzeitig zog die Redaktion aus Kiew in ein Einkaufszentrum nach Lwiw. Inzwischen sind viele Kollegen wieder nach Kiew zurückgekehrt und die Website »Nv.ua« ist eine der wichtigsten Nachrichtenquellen in der Ukraine geworden. Der »NV«-Chefredakteur Witalij Sytsch erzählt den Freunden der ZEIT hier, wie seine Kolleginnen und er trotz Raketenalarm und Stromausfällen inmitten des Kriegs weiterarbeiten. 

Freunde der ZEIT: Sie tragen als Chefredakteur die Verantwortung für viele Journalistinnen und Journalisten, wie muss man sich das konkret vorstellen?
Witalij Sytsch: Alles fing am 24. Februar 2022 an, als plötzlich unsere Einnahmen um 80 Prozent einbrachen. Der Werbemarkt in der Ukraine, ein wichtiger Teil unserer Refinanzierung des Journalismus, fiel von einem Tag auf den anderem in sich zusammen. Plötzlich waren wir auf fremde Unterstützung angewiesen. Wir sind unter anderen auch dem ZEIT Verlag sehr dankbar dafür, dass er eingesprungen ist, als es brenzlig war. Seither leistet hier bei uns in der Redaktion jeder einen großen persönlichen Beitrag, indem jeder auf einen Teil des Gehalts verzichtet. Wir arbeiten seit Beginn des Kriegs durch – Urlaub gibt es gerade nicht. Unsere Radio- und YouTube-Redaktion hat keinen Tag in den vergangenen zwölf Monaten frei gemacht. Diese intensive Arbeit der Kollegen nutzen immer mehr Leserinnen und Leser: Inzwischen lesen uns pro Monat 15 Millionen Menschen. Unser YouTube-Channel hatte vor dem Krieg eine Million Abonnenten, heute sind es acht Millionen.

FdZ: Sie sind nicht nur Journalist, sondern auch Ehemann und Vater, ist Ihre Familie immer noch bei Ihnen?
WS: Meine Frau und Kinder habe ich in der ersten Woche des Krieges außer Landes gebracht. Sie leben seither in Irland, aber sie besuchen mich von Zeit zu Zeit. Wenn sie hier bei mir sind, dann achte ich darauf, dass der Tank meines Autos immer voll ist, damit ich sie im Fall einer größeren Gefahr jederzeit an die Grenze fahren kann.

FdZ: Wie können wir uns Ihren Alltag in Kiew gerade vorstellen?
WS: Ich selbst habe mit einigen Kollegen die ersten zwei Monate des Kriegs aus einem Einkaufszentrum in Lwiw gearbeitet. Seit Mai bin ich zurück in Kiew. Ich erinnere mich daran, wie wenig Autos damals auf den Straßen unterwegs waren. Jetzt ist es fast wie vor dem Krieg. Der Stau ist zumindest wieder wie vor dem Krieg. Die Restaurants sind wieder offen. Die Geschäfte auch. Natürlich ist der Alltag immer wieder unterbrochen von Raketenalarm, aber sogar die Alarme bringen das Leben in Kiew nicht zum Erliegen.

FdZ: Seit September 2022 griff die russische Armee die ukrainische Infrastruktur an, wie leben Sie mit den Stromausfällen seither?
WS: Schlimmer als die Stromausfälle empfand ich die Unterbrechungen der Wasserversorgung. Dann wird es schnell kritisch in den vielen Hochhäusern in Kiew. Inzwischen ist die Versorgung wieder relativ stabil. Ich habe Wasser, und ich weiß, wann ich Strom habe. Meist fließt sechs Stunden lang Strom, vier Stunden müssen wir ohne zurechtkommen. Dann wieder sechs Stunden Strom, vier ohne und so weiter. Es ist nicht angenehm, aber es geht.

FdZ: Und wie muss man sich bei den Stromausfällen die Arbeit der Nachrichtenredaktion »NV.ua« vorstellen?
WS: Hier in der Redaktion haben wir inzwischen einen großen Dieselgenerator, gerade ist er auch wieder an, ich höre ihn im Hintergrund. Wir haben uns zwei Tonnen Diesel zugelegt. Das war ein großes Investment für uns. Aber so geht es fast allen jetzt in Kiew. Unternehmen wie Privatleute kaufen Generatoren und Diesel, um die Stromausfälle zu überbrücken. Ich habe den Eindruck, alle verkäuflichen Generatoren Westeuropas sind inzwischen in der Ukraine.

FdZ: Welche Themen interessieren Ihre Leser im Moment?
WS: Das einzige Thema, das gerade interessiert, ist der Krieg. Und derzeit befinden wir uns in einer besonders kritischen Phase der Auseinandersetzung, deshalb haben wir auch unseren gesamten journalistischen Fokus auf die Frontlinien gerichtet. Kultur- oder Sportjournalismus spielen keine Rolle mehr. Sieben Kollegen hier aus Redaktion und Artdirection sind seit Kriegsbeginn eingezogen worden oder haben sich freiwillig fürs Militär gemeldet. Sie sind inzwischen eine wichtige Informationsquelle für uns.

FdZ: Als wir sprechen, titelt »Nv.ua« mit einem kritischen Artikel über den ukrainischen Verteidigungsminister Olexij Resnikow, der nach Korruptionsvorwürfen offenbar abgesetzt werden soll. Wie frei kann »NV« in Kriegszeiten die eigene Regierung kritisieren?
WS: Wir führen Krieg gegen ein Land, in dem es keine Pressefreiheit gibt. Die Leute, die Wladimir Putin kritisieren, sind entweder tot, im Gefängnis, oder sie mussten Russland verlassen. In Putins Logik ist es ein Zeichen von Schwäche, wenn man die eigene Regierung kritisiert. Wir in der Ukraine wollen jedoch für unsere Pressefreiheit kämpfen. Auch wenn damit gerade im Krieg gewisse Dilemmata einhergehen. Wir debattieren darüber recht offen. Das Dilemma etwa im Fall des Verteidigungsministers ist etwa dies: Die Kritik an ihm ist notwendig, da es den begründeten Verdacht auf Fehlverhalten gibt. Andererseits schwächt die Kritik an ihm auch die Moral unserer Soldaten, die ihr Leben gerade für uns alle riskieren und sich auf ihre Führung verlassen wollen. Es herrscht aber Einigkeit darüber, dass es trotz Kriegszeiten unsere Pflicht ist, Korruption aufzudecken und anzuprangern.

FdZ: Sehen Sie sich als Journalist oder Medienschaffender im Krieg anderen Gefahren ausgesetzt als in Friedenszeiten?
WS: In den ersten Wochen des Krieges gab es massive Hackerangriffe auf unsere Nachrichtenseite, wir waren auch mal fünf Stunden offline. Seither haben unsere IT-Kollegen die Sache aber im Griff. Es gibt weiterhin Angriffe, aber sie zwingen uns nicht mehr in die Knie.

FdZ: Am 24. Februar jährt sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, wie bereiten Sie sich auf den Tag vor?
WS: Seit Kriegsbeginn plane ich nur noch einen Tag nach dem anderen. Rund um den Jahrestag herrschen viele Gerüchte, und manche machen sich Sorgen. Sie fragen sich, ob Putin etwas Schreckliches plant, schließlich ist er ein Mann, dem man einen gewissen Hang zur Symbolik nachsagt.

FdZ: Gibt es ein kleines Ritual, das Ihnen gerade hilft, sich zu motivieren und die Tage im Krieg durchzustehen?
WS: Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, ach, wir alle sind hier gut drauf, immer motiviert, dann würde ich lügen. Das Jahr im Krieg hat seine Spuren in jedem von uns hinterlassen. Menschen haben zuhauf Schlafprobleme, mich eingeschlossen. Man ist dauerhaft in einem emotionalen Ausnahmezustand, weil sich alles immer nur um den Krieg und seine Folgen dreht. Das ist aufreibend. Nichts kann dieser Ausnahmesituation den Schrecken nehmen, noch nicht einmal ein Glas guter Wein hilft. Eine Sache, die jetzt vielleicht banal klingt, fällt mir aber ein: Sport machen. Jeden Morgen gehe ich zum Sport, das hilft mir – beim Schlafen, aber auch um den Tag über stark zu bleiben. Und dann natürlich: Freunde treffen und einfach reden. Glücklicherweise haben Restaurants geöffnet – zumindest bis 21 Uhr, dann beginnt die Ausgangssperre. Die meisten meiner Freunde konnten ihre Familie, wie ich auch, nach Westeuropa in Sicherheit bringen. Wir sind also nur noch Männer hier in meinem Umfeld, die aber gerne und viel miteinander reden. Also, Sport und Reden sind vielleicht die zwei Dinge, die mir gerade helfen, nicht verrückt zu werden.

FdZ: Gibt es noch etwas, das Sie unseren deutschen Leserinnen und Lesern sagen möchten?
WS: Ich möchte mich an dieser Stelle bei der deutschen Öffentlichkeit und den deutschen Politikern für die Unterstützung bedanken – ich werde die Menschenmassen der großen Solidaritätsdemonstration vor dem Brandenburger Tor in Berlin zu Beginn des Krieges nie vergessen. Allen, die sich in Deutschland eine baldige diplomatische Lösung des Krieges wünschen, möchte ich sagen, ich verstehe diesen Wunsch. Kein Mensch will Krieg erleben. Wir Ukrainer wollten keinen Krieg. Aber nun leben wir in ihm. Der Aggressor dieses Kriegs ist einer, den wir dachten zu kennen. Aber heute haben wir den Eindruck, ein Fremder steht uns gegenüber. Wir erkennen Russland nicht wieder. Mein eigenes Haus wurde von Russen geplündert. Ich habe in diesem Krieg den Eindruck gewonnen, dass Russland nur die Sprache der Stärke versteht und nicht die der Diplomatie. Wenn wir nicht stark sind, werden sie niemals aufhören.

Witalij Sytsch ist Chefredakteur von »NV«, einem unabhängigen ukrainischen Medienhaus mit Sitz in Kiew.

 

ZEIT Online-Kolumne

Mail aus der Ukraine

Seit Kriegsbeginn berichten der Chefredakteur Witalij Sytsch des ukrainischen Medienhauses »NV« und seine Kolleginnen und Kollegen in dieser Serie über ihre Erlebnisse aus der Ukraine und den Alltag im Ausnahmezustand.

 

ZUR KOLUMNE