Die Ethikratvorsitzende Alena Buyx über die Autobiografie von Huma Abedin »Both/And. A Life in Many Worlds«:
»Huma Abedins Erinnerungen sind eine wie ich finde, faszinierende Geschichte, sehr unterhaltsam geschrieben.«
Ich tue mich schwer, mich zu entscheiden, daher empfehle ich zwei Bücher, die mich beeindruckt haben; da ich viele Jahre im Ausland gelebt habe, lese ich fast nur englischsprachige Titel.
Das erste ist die Autobiografie von Huma Abedin, »Both/And. A Life in Many Worlds«. Die Amerikanerin Huma Abedin mit Wurzeln im Mittleren Osten ist Muslima und war lange Jahre enge Mitarbeiterin der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton. Für Menschen, die sich für internationale Politik interessieren, ist sie ein Begriff, denn sie hat damals die US-Außenpolitik mitgestaltet. Zur gleichen Zeit war sie verheiratet mit Anthony Weiner, einem Politiker der Demokratischen Partei und New Yorker Kongressabgeordneten. Man erinnert sich: Er stand im Mittelpunkt eines der ersten großen Sexting-Skandale, er hatte Frauen mit Sex-Fotos belästigt, anzügliche Fotos neben seinem schlafenden Sohn aufgenommen und sich schließlich wegen seiner Sexsucht therapieren lassen.
Huma Abedins Erinnerungen sind eine, wie ich finde, faszinierende Geschichte, sehr unterhaltsam geschrieben. Bemerkenswert daran ist die luzide Analyse ihres beruflichen Werdegangs und des Kontextes, in dem sie immer brillant war – und sie hat wohl noch mehr brilliert, als sie selbst beschreibt … Ein unglaublicher Workaholic, sie hat offenbar alle in ihrem Umfeld beeindruckt. Diese Art von Klugheit steht im Kontrast zu der Beschreibung ihrer privaten Tragödie. Wenn man die liest, fragt man sich manchmal, ob sie taub und blind war. Dass jemand in einem Lebensbereich so überragende Intelligenz zeigt und im anderen vollkommen auf dem Schlauch zu stehen scheint, habe ich als erstaunlichen Gegensatz wahrgenommen. Man versteht ihre privaten Entscheidungen nicht, obwohl sie viel Zeit darauf verwendet, sie zu erklären. Es ist das Dokument einer spannenden, gebrochenen Frauenfigur.
Was hängen bleibt nach der Lektüre, ist zum Beispiel die Szene, als Huma Abedin noch als Praktikantin im Weißen Haus arbeitet. In einem bestimmten Moment erhebt sie ihre Stimme – und alle nehmen sie zum ersten Mal wahr, als jemanden mit enormer Expertise, das ist sehr schön beschrieben. Man kennt ja solche Momente, in denen man sich auf einmal zu Wort meldet – hätte man es in diesem besonderen Moment nicht gemacht, wäre das Leben vielleicht anders verlaufen. Im Gegensatz dazu stehen die verschiedenen Momente, in denen sie entdeckt, was ihrem Mann vorgeworfen wird, und sie steht jedes Mal da wie der Ochs vorm Berg. Man leidet mit, aber möchte sie zugleich nehmen und schütteln und sagen »Mädchen! Lauf!«
Das zweite Buch ist völlig anders, »Normale Menschen« von Sally Rooney. Es wurde mir empfohlen. Ich hatte etwas Locker-Flockiges aus dem Studentenmilieu erwartet – man will ja schließlich mitkriegen, was die Studenten heute so umtreibt. Es geht um ein junges Paar, um Connell und Marianne. Beide wachsen in einer westirischen Kleinstadt auf. Aber sie sind grundverschieden, er, der Beliebte, ist bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, die offensichtlich eine liebevolle, stabile Figur ist. Marianne ist eher die Außenseiterin. Man spürt eine zerstörerische Kraft in ihrer Familie, in der psychologischer Missbrauch stattfindet. Beide verhalten sich erratisch, und man fragt sich, sind das jetzt die typischen Irrungen/Wirrungen des Erwachsenwerdens – war man selbst auch so? – oder geht es hier doch um etwas anderes? Denn es gelingt dem Buch ausnehmend gut, aufzublättern, welche Facetten mentale Gesundheit beziehungsweise deren Störungen haben können. Man denkt lange, es geht um eine Beziehungskiste, darum, wie beide sich einander und ihrem Umfeld darstellen, wie sie sich finden und trennen. Und dann merkt man hier und da, dass bei beiden offensichtlich psychische Herausforderungen eine Rolle spielen, die in diese Beziehung hineinragen, die aber unterschiedliche Qualitäten haben. Das ist wahnsinnig subtil gemacht, nicht bedeutungsschwanger, sondern en passant, und man überlegt hier und da – ist das jetzt eine normale Reaktion? Insbesondere bei Marianne, mit ihrer Familiengeschichte: Braucht sie Hilfe, sind verschiedene Vorfälle etwas, das behandelt werden sollte? Das wird nicht aufgelöst und bleibt in der Schwebe. Ich finde außerdem gut, dass auch das Ende der Beziehungsgeschichte offen bleibt. Man weiß nicht, ob die beiden es schaffen oder nicht. Das erzeugt Nachhall.
Leider habe ich wenig Zeit für Bücher wie die eben beschriebenen. Ich versuche sie mir zu nehmen, weil man sonst, westfälisch gesprochen, so »verstullt«, also etwas eindimensional wird. Aber der Tag hat nur 24 Stunden, und hauptberuflich lese ich primär Literatur aus meinem Fach, der Medizinethik, und zu den angrenzenden Fragen. Da ich immer noch auch Mitglied bin im Expertenrat der Bundesregierung, verfolge ich auch noch vieles, das mit Corona zu tun hat.
Alena Buyx, Jahrgang 1977, wurde einem breiten Publikum während der Pandemie als Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung und Chefin des 24-köpfigen Deutschen Ethikrates bekannt. In dieser Funktion spricht die Medizinethikerin Empfehlungen für die Politik aus. Eine der Fragen war zum Beispiel, wie der zunächst knappe Impfstoff gerecht zu verteilen sei. Die Hochschul-Professorin lehrt an der Technischen Universität München Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien. Zuvor lehrte sie in Kiel, London und Münster. In einem spannenden Interview mit der ZEIT sprach Alena Buyx kürzlich darüber, wie sie selbst auf die Pandemie zurückblickt und was uns drei Jahre Corona gelehrt haben.