
Der Sänger Vincent Waizenegger von Provinz über den Antikriegsroman »Das große Heft« von Ágota Kristóf:
»Kristóf erzählt schonungslos, standfest und ohne Beschönigung«
Für einige von Ihnen vermutlich ein alter Schuh, für mich eine Offenbarung: Der Roman »Das große Heft«, erschienen 1986 unter dem Titel »Le grand cahier«, geschrieben von der Ungarin Ágota Kristóf, kommt mit gerade mal 162 Seiten schmal daher.
Eines Nachts schaute ich mir auf der Suche nach einem passenden Roman für den Urlaub eine YouTube-Buchrezension an: Ein junger Autor mit lichtem Haar schwärmt von einem kleinen Buch, ja eher einem Heft. Ihn habe seit Jahren nichts mehr derart eingenommen – dokumentarische, stichpunktartige Sätze, die eine nicht zu vermutende Wucht entfalten würden. Irgendwo zwischen Protokoll und Dichtung, meint er. Das gefällt mir. Meine Aufmerksamkeitsspanne war nach einem langen Festivalsommer mit Tausenden Social-Media-Posts und -Storys sehr mitgenommen, daher war ich auf der Suche nach einem schnell lesbaren Buch mit klaren, kurzen Sätzen à la Schirach. Ein Roman mit historischem Hintergrund, der weit weg von meiner Realität spielt, machte die Sache noch interessanter.
»Das große Heft« erzählt die Geschichte zweier Zwillingsbrüder, die, in Kriegszeiten, auf sich allein gestellt, erwachsen werden. Als in ihrer Geburtsstadt Bomben fallen, werden die Brüder von ihrer Mutter zu ihrer Großmutter, der sogenannten »Hexe«, aufs Land gebracht. Die Großmutter, die den unerwünschten Zuwachs nur unter Protest aufnimmt, lässt die Zwillinge hart für ihren Unterhalt arbeiten. Liebe, Mitgefühl oder Zärtlichkeit erfahren sie nicht, stattdessen müssen sie in der grausamen Welt des Krieges voller Entbehrung, Gewalt und Elend lernen, sich zu behaupten. Sie stehlen, lügen, betteln, töten und erpressen. Sie sind gezwungen, ihre eigenen Strategien zu entwickeln, und erlangen Selbstdisziplin, indem sie sich das Empfinden physischer und psychischer Schmerzen abtrainieren.
Sie bringen sich selbst Lesen und Schreiben bei und beginnen kurz darauf, kleine Aufsätze zu verfassen. Empfinden die Zwillinge die Texte als gelungen, werden sie in ihr großes Heft eingetragen. Als sich der Krieg dem Ende zuneigt und die Mutter ihre Söhne wieder zurück zu sich nehmen will, findet der Roman seinen traurigen Höhepunkt. Der Roman beschreibt in einer entwaffnenden Klarheit, wie sich der Krieg von der Front bis tief in die Zivilbevölkerung ausbreitet, bis nur noch der bloße Existenzkampf übrig bleibt.
Schonungslos, standfest und ohne Beschönigung erzählt Kristóf von Zwillingsbrüdern, die sich entscheiden, nicht zu träumen, zu fühlen oder zu vertrauen. Nüchtern und ohne Urteil schreiben die Zwillinge ihre Erlebnisse und Lektionen in ihr großes Heft und hinterlassen in mir eine schlimme Ahnung von dem, was man Krieg nennt.
Vincent Waizenegger ist Sänger und Frontmann der deutschen Indie-Pop-Band Provinz. Von einem kleinen oberschwäbischen Städtchen hat sich die Band in den vergangenen Jahren in die Herzen der Republik gespielt. Das dritte Album, »Pazifik«, erscheint morgen. Nachdem die letzte Vorab-Single »Sommer macht melancholisch« die Sommer-Sehnsucht angeknipst hat, kann man sich jetzt auf das neue Album freuen.