Spotlight-Chefredakteurin Inez Sharp über die Lebensgeschichte »Treibsand: Erinnerungen einer Europäerin« von der Journalistin und Schriftstellerin Sybille Bedford:
»Diese Biografie ist die Momentaufnahme eines verlorenen Europas. Und damit verblüffend aktuell.«
»Treibsand: Erinnerungen einer Europäerin« von Sybille Bedford ist ein Buch, das für mich so gut wie alle alltäglichen Widrigkeiten erträglich macht. Ich habe es mit Freude an Mittelmeerstränden gelesen, aber auch in grauen, depressiven deutschen Wintern. Einmal, vor ein paar Jahren, habe ich das Anfangskapitel monatelang jeden Tag gelesen.
Bedfords Biografie beginnt an einem Tag im August 1953. Sie kommt nach Jahren im Exil – USA und Mexiko – in der Schweiz an, euphorisch, aber wie viele Emigranten dieser Jahre auch ein wenig schuldbewusst, weil sie den Krieg überlebt hat. Es ist ein Tag voll intensiver Eindrücke, geschildert in einer Sprache, die einerseits vor Freude sprüht und sich zugleich passagenweise so sparsam liest wie ein Telegramm.
Sybille Aleid Elsa von Schoenebeck wurde 1911 in Berlin geboren und verbrachte ihre frühe Kindheit mit ihrem verarmten aristokratischen Vater auf einem Gut in Baden. Mitte der 1920er-Jahre zog sie nach Sanary-sur-Mer, einem Dorf an der französischen Mittelmeerküste, zu ihrer deutsch-jüdischen Mutter und ihrem neuen italienischen Stiefvater. In den folgenden Jahren wurde Sanary vorübergehend eine Heimat für durch die Nazis verfolgte deutsche Schriftsteller. Sybille machte Bekanntschaft mit Thomas Mann und Lion Feuchtwanger – beide waren ihr unsympathisch. Ein anderer zeitweiliger Bürger von Sanary, der englische Autor Aldous Huxley, wurde zum engen Freund und Mentor. Ihre Schulbildung – wenig Klassenzimmer, viel autodidaktische Kleinarbeit – fand in England statt. Den Nachnamen Bedford erhielt sie 1935, als ihre jüdische Abstammung in Frankreich zu einer potenziellen Gefahr wurde. Huxleys Frau Maria organisierte eine Zweckehe mit einem schwulen englischen Armeeoffizier, Terry Bedford.
Bedfords Erzählung oszilliert zwischen ihren Erinnerungen an die Nachkriegszeit, ihr Vagabundenleben in Frankreich, Italien und England, und ihrer frühen Jugend. In ihrem reichhaltigen und zugleich knappen Schreibstil verknüpft sie die Stränge eines exotischen und oft chaotischen Lebens – die Beschreibung einer Fahrt mit Nico, dem wehleidigen Pudel von Thomas Mann, quer durch Amerika im Sommer 1940 ist ein besonderes Highlight. Ein anderes die Beschreibung von Bedfords Aufenthalt in einer von Geistern heimgesuchten Dachkammer mitten in Rom.
Diese Biografie ist die Momentaufnahme eines verlorenen Europas. Und damit verblüffend aktuell. Zu einer Zeit, in der die Bedeutung Europas kulturell und politisch immer wieder neu ausgehandelt wird, lohnt sich die Lektüre dieses Buchs besonders.
Inez Sharp ist Chefredakteurin der Zeitschrift »Spotlight«, des Englisch-Sprachmagazins der ZEIT-Verlagsgruppe. In jeder »Spotlight«-Ausgabe gibt es fundiert recherchierte Artikel, die spannende Einblicke in die englischsprachige Welt erlauben und dazu Übungen und Lernhilfen. Die Britin Inez Sharp war unter anderem als Englischlehrerin und Übersetzerin sowie als Moderatorin des Bayerischen Rundfunks tätig. In diesem unterhaltsamen Video spricht sie über ihre Muttersprache. Das Video eignet sich übrigens auch sehr gut, um das eigene Hörverständnis zu testen.