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ZEIT-Redakteur Jakob Pontius über die autobiografische Erzählung »An das Wilde glauben« von der Anthropologin Nastassja Martin:

»Martins Erzählung ist wunderbar sinnlich und klug.«

 

Eine junge Anthropologin steigt aus den Bergen Kamtschatkas hinab ins Tal, plötzlich steht sie vor einem Bären. So nah, dass keiner der beiden mehr ausweichen kann. Der Bär stürzt sich auf sie, beißt ihr ins Gesicht, in den Kopf, ins Bein. Doch sie kann nach ihrem Eispickel greifen und hackt auf das Tier ein. Der Bär lässt sie los, verschwindet im Wald, beide leben.
Die Begegnung mit dem Bären ist wahr. Und zugleich eine Geschichte, viele Geschichten. In ihrem aus Feldnotizen entstandenen Buch »An das Wilde glauben« kreist Nastassja Martin immer wieder neu um ihren Kampf mit dem Bären, um ihre Umarmung mit dem Bären. Sie erzählt von ihrer Heilung, wie sie zusammen­geflickt wird, wie sie aufgerieben wird zwischen den Systemen.
Doch der zentrale Konflikt ist der zwischen Mensch und Natur. Die Grenze zwischen beiden ist nur erfunden, doch gerade in der westlichen Welt haben wir uns im Gegensatz zwischen dem Wir und dem Draußen eingerichtet. Martin hat unter Menschen gelebt, die das anders empfinden, die an die Belebtheit der Dinge glauben, die in der Wildnis keine Leere sehen, sondern darin Geschöpfe auf Augenhöhe erkennen. Dieser Animismus hat ihre professionelle Neugier geweckt, aber auch eine beinahe physische Sehnsucht nach »dem Ursprünglichen«. In der Begegnung mit dem Bären verschwimmen in ihr selbst die Grenzen, sie wird zur »Miedka«, wie die Ewenen sagen, mit denen sie dort lebt: halb Mensch, halb Bär.
Martins Erzählung ist wunderbar sinnlich und klug. Sie schwankt zwischen der intellektuellen Betrachtung, die Abstand schafft zwischen ihr selbst und dem Geschehenen, und dem Sog metaphysischer Bedeutung, dem Einswerden mit der Natur. Sie will an das Wilde glauben, ohne es zu glorifizieren. Sie dabei zu begleiten ist eine große Lesefreude.

Unser Kollege Jakob Pontius hat eigentlich mal Sozialwissenschaften und Global Development studiert. Mittlerweile arbeitet er als Genussredakteur beim ZEITmagazin ONLINE und ist verantwortlich für das ZEITmagazin Wochenmarkt. Wir duften so von ihm schon lesen, was es braucht, um einen guten Tee aufzugießen oder weshalb in Deutschland weiterhin so viel Billigfleisch konsumiert wird. Besonders spannend auch sein Interview mit dem israelischen Koch und Starautor Yotam Ottolenghi. Jakob sprach mit ihm in seinem Londoner Restaurant Rovi über Kochen in der Pandemie, die Kraft von Gemüse und die Politik von Gerichten. Und da schließt sich der Kreis in Jakobs Biografie vielleicht wieder, denn natürlich kann Essen auch politisch sein.

 

An das Wilde glauben

von Nastassja Martin (2021)

Bei einer Forschungsreise auf der russischen Halbinsel Kamtschatka wird die Anthropologin Nastassja Martin von einem Bären gebissen und schwer verletzt. In »An das Wilde glauben« erzählt sie die Geschichte dieses Kampfes und ihrer Genesung. Träume und Erinnerungen lassen Nastassja Martin umfassende Heilung in sich selbst und der Wildnis finden, in die sie nach einer qualvollen Genesungsgeschichte in russischen und französischen Krankenhäusern zurückkehrt. Das 140 Seiten umfassende und von den Kritikerinnen gelobte Buch wurde von Claudia Kalscheuer übersetzt. Und auch ZEIT-Autor Ronald Düker schreibt über die autobiografische Erzählung vergangenes Jahr im Literaturspezial der ZEIT: »Nastassja Martins Buch ist ein freihändiger Ritt auf der Klinge. Satz für Satz erfindet sie eine Sprache, mal näher, mal ferner dem kaum Sagbaren.« Seine vollständige Rezension finden Sie hier.

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