Der Schriftsteller Bernhard Schlink über den Roman »Das dritte Licht« von Claire Keegan: 

»Die bewegende Geschichte des Mädchens hat sie uns in einer zarten Sprache geschenkt, die, nicht kindlich und gleich­wohl authentisch, uns mit dem Mädchen wahrnehmen, fühlen und denken lässt.«

 

»Foster« heißt das Buch auf Englisch. Es erzählt von einem sechsjährigen Mädchen, das seinen Eltern zu viel ist und einen Sommer lang foster child, Pflegekind wird. Ein verwandtes Ehe­paar nimmt es auf. Es ist anders als seine Eltern. Das erste Mal in seinem Leben wird das Mädchen im wahren Sinn des Wortes fostered, gepflegt, umsorgt, behütet.

Es erzählt selbst. Wie warm und still und sauber es bei den Pflege­eltern ist, wie sanft die Frau es badet, wie liebe­voll sie ist, als es das Bett nässt, wie behutsam sie es in die Tages­ab­läufe hinein­nimmt. Es gibt kleine Rituale, den Gang zum Brunnen mit dem dunklen Wasser, das Rennen zum Brief­kasten, ein spiele­rischer Wett­lauf mit dem Uhr­zeiger. Das Mädchen hört, dass man das Reden lassen kann und die perfekte Gelegen­heit, nichts zu sagen, nicht ver­passen darf. Eines Tages gerät es an eine tratsch­süch­tige Nach­barin, die es auf­klärt, dass der Sohn der Pflege­eltern im Brunnen er­trun­ken ist. Das Mädchen erzählt es den Pflege­eltern; sie sagen nichts, aber der Mann geht mit ihm am Abend an den Strand, sie sehen auf das Meer, und er nimmt es in die Arme. Dann beginnt die Schule, und die Pflege­eltern bringen es zurück nach Hause. Dort ist es feucht und kalt und schmutzig, die Mutter und die Schwestern be­geg­nen ihm miss­trauisch, der Vater ab­wei­send. Die Pflege­eltern fahren los, müssen aber das Tor der Ein­fahrt öffnen. Da rennt das Mädchen zu ihnen, fliegt in die Arme des Mannes, der es hoch­hebt und fest­hält. Als der Vater kommt, ruft es »Daddy«. Es will ihn warnen. Es ist nicht mehr das Kind, das es zu Beginn des Sommers war.

Aus kleinen Gescheh­nissen wachsen große Ver­än­derungen. Die Ver­hält­nisse sind ärm­lich, die Männer wort­karg, die Frauen ver­schlossen. Das Mädchen ist scheu, zögernd, ängst­lich. Aber die kleinen Akte der Liebe, Auf­merk­sam­keit und Zu­wen­dung genügen, dass es vom Kind zur Person wird. Wie Menschen zu sich finden, ist das große Thema von Keegan. Die bewegende Geschichte des Mädchens hat sie uns in einer zarten Sprache ge­schenkt, die, nicht kind­lich und gleich­wohl authen­tisch, uns mit dem Mädchen wahr­neh­men, fühlen und denken lässt.

Übrigens wurde der wunder­bare Roman als »The Quiet Girl« wunder­bar verfilmt.

 

Bernhard Schlink ist Jurist und Schrift­steller. Spätestens seit dem 1995 ver­öffent­lichten Roman »Der Vorleser« ist er welt­berühmt. Zuletzt erschien von Schlink 2021 »Die Enkelin«. Am Mittwoch kommt nun endlich sein neuer Roman »Das späte Leben« heraus. Den sollten Sie nicht verpassen! Aber bis dahin legen wir Ihnen noch seinen sehr lesens­werten Gast­beitrag in der ZEIT über einen Gesell­schafts­dienst für alle ans Herz →

 

Das dritte Licht

von Claire Keegan (2023)

 

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