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Die Autorin und Fotografin Bettina Flitner über die Erzählungen »Wir sind noch da! Mutige Frauen aus Afghanistan«, herausgegeben von Nahid Shahalimi:

»Die dramatischen Geschichten dieser 13 Frauen – exemplarisch für die vieler anderer Frauen in Afghanistan – haben mich nachdrücklich berührt.«

 

»Während ich als Jurorin bei ›The Voice of Afghanistan‹ tätig war, präsentierte ein anderer Fernseh­sender namens Noorin TV jeden Abend einen anderen Mullah als Gast – und jeden Abend sprachen sie eine Stunde lang aus­schließlich über mich und darüber, welch negativen Einfluss ich auf die Gesellschaft und die Frauen in Afghanistan hätte. In der 13. Nacht kamen alle zwölf Mullahs zusammen und erließen eine gemeinsame Fatwa: Jeder, der Aryana Sayeeds Kopf abschlägt und ihn zu ihnen bringt, kommt in den Himmel.«
Das war acht Jahre vor dem Schicksals­datum. Die Sängerin Aryana, ein Super­star in Afghanistan im westlich-orientalischen Outfit, mit zahlreichen Fernseh­shows, war schon damals ein Dorn im Auge der konservativen Kleriker. Trotz der drohenden Todes­gefahr trat sie weiter live auf, tanzend, mit offenen Haaren. Am 15. August 2021 schafft es Aryana ein paar Minuten vor Mitter­nacht gerade noch auf das Flug­hafengelände von Kabul.
»Wir sind noch da!« ist der Titel des Buches. Aber da ist nur noch eine der 13 Frauen, die zu Wort kommen: Razia. Sie war auf einem verwackelten Handyvideo im Fernsehen oder im Netz zu sehen: Razia, eine der drei todes­mutigen Frauen, die auf einer Straße in Kabul standen und mit kleinen hand­gemalten Papp­schildern für ihre Freiheits­rechte demonstrierten, umstanden von Taliban mit Kalaschnikows. Ja, sie ist da. Noch. Sie schläft jede Nacht woanders. Wenn sie überhaupt schläft. Denn auch heute werden täglich Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt und verschleppt, und fast täglich schickt eine Frau in Kabul ihr letztes Video in die Welt.
Die anderen zwölf Frauen, die in »Wir sind noch da« schreiben, sind nun zum zweiten Mal geflohen. Das erste Mal Anfang der 1990er-Jahre, als Kinder mit ihren Eltern, vor der ersten Macht­übernahme der Taliban. In den 2000er-Jahren kamen sie zurück, gut ausgebildet in Kanada, England, den USA, Deutschland: die Architektin, die Politikwissenschaftlerin, die Betriebswirtin, die Informatikerin. Sie kamen voller Hoffnung in ein vertrautes und fremdes Land zurück. Sie wollten sich und allen Frauen und Mädchen eine Zukunft geben. Sie gründeten Programmierschulen, Online-Plattformen, Thinktanks, Frauen­filmfestivals.
Soll das alles umsonst gewesen sein? Der eindringliche Appell dieses Buches: Wir sind da, fragt uns. Ihr redet mit den Taliban in Oslo, sprecht auch mit uns. Ein Appell, der in mir auch noch lange nach der Lektüre nachhallen wird. Die dramatischen Geschichten dieser 13 Frauen – exemplarisch für die vieler anderer Frauen in Afghanistan – haben mich nach­drücklich berührt.

Bettina Flitner startete als Filmemacherin, arbeitet nun aber vor allem als Autorin und Fotografin. Oft kombiniert sie in ihren Arbeiten, die in vielen Ausstellungen gezeigt und als Bücher veröffentlicht wurden, Fotografie und Text. Ihr neuestes Buch besteht nur aus Text. In »Meine Schwester«  schreibt sie über den Suizid ihrer älteren Schwester. Sie erzählt die Geschichte einer innigen Geschwister­beziehung – von der unbeschwerten Kindheit bis zur Entfremdung im Erwachsenen­alter. Bettina Flitner stellt sich der gemeinsamen Vergangenheit und verarbeitet durch das Schreiben den Tod eines geliebten Menschen. Daraus entstanden: ein mutiges Buch, das mit Tabus und dem Schweigen bricht.

 

Wir sind noch da! Mutige Frauen aus Afghanistan

von Nahid Shahalimi (2021)

»Wir sind noch da!« lässt 13 hochkarätige und couragierte Frauen aus Afghanistan in Text­beiträgen und Interviews zu Wort kommen. Sie schreiben über berufliche und gesellschaftliche Errungenschaften unter anderem als Programmiererin, Filme­macherin, Politikerin, Journalistin. Sie berichten über die Angst und den Schmerz vor dem drohenden Verlust der Heimat, aber vor allem über das, was die Mädchen und Frauen vor Ort schon jetzt verloren haben: Freiheit, Selbst­bestimmung, Lebens­freude. Die Herausgeberin des Buchs, Nahid Shahalimi, wurde in 1973 in Afghanistan geboren und floh mit ihrer Mutter und ihren Schwestern über Pakistan nach Kanada, wo sie bildende Kunst und Politik studierte. Seit 2000 lebt sie mit ihren Töchtern in München, wo sie als Künstlerin, Filme­macherin, Aktivistin und Autorin tätig ist. 2018 erschien ihr preisgekrönter Dokumentarfilm »We the Women of Afghanistan: A Silent Revolution« über Frauen in Afghanistan.

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