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Der Journalist und Autor Jens Bisky über »Die Falschmünzer« von André Gide:

 

»Der Roman ver­bindet menschen­freund­liche Lebens­klugheit mit literarischem Virtuosentum«

 

DasWelches Buch hat Sie kürzlich richtig begeistert?
Im Sommer fiel mir beim Staub­wischen ein Buch in die Hände, zu dem ich vor über vierzig Jahren schon einmal ge­grif­fen hatte, weil es, wie mir Freunde damals sagten, ein Reigen homo­sexueller Liebes­ge­schich­ten war: André Gides »Die Falsch­münzer« aus dem Jahr 1925. Im DDR-Verlag Volk und Welt war die erste deutsche Über­setzung – von Ferdinand Harde­kopf – wieder auf­ge­legt worden. Nun, Jahr­zehnte später, fing ich an zu lesen und war sofort ge­fan­gen. Der Roman ver­bin­det menschen­freund­liche Lebens­klug­heit mit li­te­ra­rischem Vir­tuo­sen­tum, das eine ist ohne das andere nicht zu haben.


Worum geht es?
Pariser Gymnasiasten suchen ihren Weg ins Leben, raus aus der Stick­luft der Kon­ven­tion, fort vom sinn­losen So-Weiter. Sie wollen ge­sehen werden, sich aus­zeich­nen, das Echte vom Falschen unter­schei­den. Die Welt der Väter ver­langt Folg­sam­keit von ihnen und bietet doch kaum Er­stre­bens­wertes, besten­falls Aben­teuer, schnellen Ruhm, Komfort. In ihrer Auf­leh­nung ent­wickeln die Halb­wüch­si­gen auch grau­same, eitle, böse Charakter­züge. Am Ende steht ein Tod, halb Mord, halb Suizid, der hätte ver­hin­dert werden können.


Können Sie sich mit einer Figur aus dem Buch identifizieren?
Am ehesten mit Edouard, dem älteren Schrift­steller, der im Roman an seinem Roman »Die Falsch­münzer« ar­bei­tet, der viel beo­bach­tet, sich regel­mäßig falsch ent­scheidet. Ein­träge aus Edouards Tage­büchern kommen­tieren das Geschehen und treiben es voran. Aber man sollte sich in diesem Roman auf das Spiel mit unter­schied­lichsten Pers­pek­tiven ein­las­sen und auf die gran­dio­se Parodie roman­hafter Ver­wick­lun­gen: Ver­steckte Briefe werden ent­deckt, der eigene Vater ist nicht der Er­zeu­ger, ein Gepäck­schein geht ver­loren, es häufen sich un­wahr­schein­liche Be­geg­nun­gen; eine besser­ge­stell­te Jugend­bande bringt falsche Münzen in Um­lauf. In Gides Paris des frühen 20. Jahr­hun­derts geht es zu wie in See­fahrer­ge­schich­ten. Die platte Vor­stellung fol­ge­rich­ti­ger Ent­wick­lung wird auf diese Weise iro­ni­siert – und man ist ein­ge­laden, die Pers­pek­tive einer jeden Person ein­zu­nehmen.


Was haben Sie über sich gelernt?
Gelernt habe ich vor allem, wie großes Ver­gnügen mir nicht­rea­lis­tische Romane be­reiten, wie sehr ich Ge­schich­ten mag, in denen die Kunst, nicht das Leben Regie führt. Daraus folgt Neugier auf die Art, in der wir von der Welt und unserem Weg in ihr er­zäh­len, und die nicht neue, aber be­un­ruhi­gen­de Ein­sicht, wie nah bei­ein­ander Zärt­lich­keit und Grau­sam­keit liegen, dass wir alle selt­sam ge­misch­te Wesen sind, viele An­lagen in uns tragen. Was sorgt dafür, welche sich entwickeln?


Und was lesen Sie sonst so?
Berufsbedingt viele Sach­bücher, wissen­schaft­liche Mono­gra­fien, privat gern Bio­gra­fien, Memoiren, Tage­bücher – und Dramen. Wort, Wider­wort, Vorhang – dabei erhole ich mich am besten.

 


Jens Bisky, 1966 in Leipzig geboren, hat über seine frühen Jahre in der viel beach­te­ten Auto­bio­gra­fie »Geboren am 13. August. Der Sozia­lis­mus und ich« Aus­kunft ge­ge­ben. Er studierte Kultur­wissen­schaft und Ger­ma­nis­tik und wurde mit einer Arbeit über Archi­tek­tur­ästhetik promo­viert. Als Jour­na­list schrieb er unter anderem für das Feuille­ton der »Süd­deutschen Zeitung« und ist heute geschäfts­füh­ren­der Re­dak­teur von »Mittel­weg 36« und »Sozio­po­lis«, den Publi­ka­tio­nen des Hamburger Instituts für Sozial­forschung. 2019 ver­öffent­lichte er »Berlin. Bio­gra­phie einer großen Stadt«. Der Maler Norbert Bisky ist sein jüngerer Bruder. Sein neuestes Buch »Die Ent­schei­dung. Deutsch­land 1929 bis 1934« war für den Preis der Leipziger Buch­messe 2025 nominiert.

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