Der Schauspieler Johannes Kienast über die Memoiren »Nullerjahre« von Hendrik Bolz:
»Ich habe mich beim Lesen oft geschämt und gleichzeitig gefreut, mit dieser Scham nicht allein zu sein.«
Das Buch in drei Wörtern
Aufwachsen, Ostdeutschland, Nullerjahre
Wie sind Sie auf das Buch gekommen?
Ganz klassisch: Weihnachtsgeschenk
Was macht das Buch für Sie gerade jetzt aktuell?
Es zeigt die Nachwirkungen der DDR in Ostdeutschland, ein Aufwachsen, was es so in Westdeutschland nie gegeben hat. Es beleuchtet mit einer autobiografischen Geschichte und dem Hinzufügen von Statistiken und Fakten die diffuse Nachwendezeit, die sogenannten Baseballschlägerjahre, und macht deutlich, dass in dieser Zeit viel falsch gemacht und versäumt wurde. Menschen wurden mit einer komplett neuen Situation sich selbst überlassen, die Arbeitslosigkeit stieg rasant in die Höhe, aus versprochenen blühenden Landschaften wurden schnell Plattenbauhöllen. Bolz will kein Mitleid, ist nie larmoyant. Er beschreibt klar, nüchtern und schonungslos sein Aufwachsen: Eine unglaubliche Wut bestimmt das Miteinander, man will einfach nur kaputtmachen. Menschen, Gegenstände, Gefühle. »Nichts Schönes darf es hier geben«, ein Zitat aus dem Buch, zieht sich als Gedanke durch die ganze Geschichte. Das Wort Wiedervereinigung blieb mir beim Lesen im Halse stecken. Die Folgen sehen wir heute, unter anderem in Form der Wahlergebnisse. Und wenn man die verstehen will, wird dieses Buch dabei helfen.
Wen würden Sie vor dem Buch warnen und warum?
Es kommen unter anderem vor: Suizid und Suizidgedanken, endlose Gewalt, Depression, die damals verwendete Sprache (samt ihres homophoben, rassistischen, misogynen, antisemitischen Vokabulars). Ich möchte aber eigentlich nicht vor dem Buch warnen, da die Drastik der Geschichte und der Bilder Realität waren und immer noch sind, und ich finde es wichtig, dass es so viele Menschen wie möglich (vor allem aus dem Westen) lesen. Es beschönigt nichts, und das ist meiner Meinung nach wichtig.
Was bleibt nach dem Lesen?
Eine Leere. Ein sich ertappt Fühlen. Ein Wiedererkennen und Sich-verstanden-Fühlen. Wut, Wut, Wut. Melancholie und Ekel.
Haben Sie beim Lesen des Buches etwas Neues (über sich) gelernt?
Mir ist durch die Drastik des Buches nur wieder bewusst geworden, wie omnipräsent Gewalt unter Männern ist und schon immer war. Wie präsent sie in meinem Leben war und ist. Ich wurde an all die schlimmen Dinge erinnert, die mir angetan wurden und die ich anderen Menschen angetan habe, nur um nicht als der Schwächere zu gelten. Ich habe mich beim Lesen oft geschämt und gleichzeitig gefreut, mit dieser Scham nicht allein zu sein.
Wenn Sie mit einem Charakter aus dem Buch tauschen könnten, welcher wäre das und warum?
Ich möchte mit niemandem aus dem Buch tauschen.
Wo lesen Sie am liebsten und warum?
Eines meiner Ziele für 2025 ist, mehr zu lesen …
Und was lesen Sie sonst so?
»Sandmännchen«, »Rabe Socke«, »Das Neinhorn« 1-3. und Drehbücher.
Der Schauspieler und Wahl-Berliner Johannes Kienast ist in zahlreichen Film-, Fernseh- und Theaterproduktionen zu sehen. Wie zum Beispiel in der ARD-Fernsehserie »Die Notärztin«. Aktuell gehört er zum Hauptcast der fiktionalen Drama-Serie »A Better Place«, die seit dem 10. Januar in der ARD-Mediathek läuft und am 22. Januar im Ersten startet. Darin geht es um die Frage, ob die Welt tatsächlich »a better place« werden könnte, wenn wir auf Gefängnisse und Haftstrafen verzichten. Dystopie oder die Wende hin zu einer besseren Welt?!