Der Schriftsteller Matthias Lohre über den Roman »Der Erwählte« von Thomas Mann:
»Wir führen unsere Leben nicht. Das Leben führt uns.«
Welches Das Buch in einem Satz:
Als der junge Klosterschüler Gregorius erfährt, dass seine wahren Eltern Geschwister sind, verlässt er das mittelalterliche England, um auf dem Kontinent seine Herkunft zu ermitteln und Vater, Mutter und sich selbst zu erlösen.
Was macht das Buch für Sie gerade jetzt aktuell?
Auf den ersten Blick könnte die Handlung von Thomas Manns zweitletztem Roman kaum verstaubter wirken. In Wirklichkeit ist die Gregorius-Legende, die Mann ausschmückt und verfeinert, zeitlos. Denn sie erzählt von Schuldgefühlen, der Sehnsucht nach Erlösung und Einssein. Und damit vom Glauben, nicht »richtig« zu sein. Kaum jemand hat davon einfühlsamer geschrieben als Thomas Mann. Als er sich Anfang 1948 an den »Erwählten« machte, war er 72 und hatte eine schwere Lungen-OP überraschend gut überstanden. Ihm war Lebenszeit geschenkt worden. Nun wollte er »bei düsterster Weltlage das Heiterste« erfinden. Mit dem Ziel, »die Menschen […] zu trösten – und zu erheitern«. Beides können wir heute gut gebrauchen.
Wen würden Sie vor dem Buch warnen und warum?
Was Thomas Mann »erheiternd« findet, ist nicht jedermanns Sache. Sein Humor könnte mitunter ein paar Fußnoten vertragen. So lässt er seinen Erzähler sagen: »Der Geist der Erzählung ist ein mitteilsamer Geist, welcher gefällig seine Leser und Lauscher überall hinführt.« Das lässt sich verstehen als Scherz Manns über sich, den notorischen Wälzerschreiber. (Nicht nur der »Erwählte«, sogar der »Zauberberg« sollte ja anfänglich bloß eine Novelle werden.) Doch etwas anderes ist viel wichtiger. Wer sich mit Wohlwollen und psychologischem Gespür ans Lesen macht, versteht rasch: Im »kleinen archaischen Roman«, dem »Werkchen« – wie Mann den »Erwählten« nannte – steckt die Altersweisheit eines Menschen, der unfassbar viel gelesen, erlebt und reflektiert hat. Doch anders als beim »Doktor Faustus« ist hier alles leicht geraten. Die Figuren atmen Leben, anstatt unter der Last ihrer vielfachen Bedeutung zu ächzen. Thomas Mann hat seine verbliebene Kraft zusammengenommen, um Zeitgenossinnen und -genossen von einem Mittel gegen Verbitterung und Hass zu berichten: dem Staunen.
Was bleibt nach dem Lesen?
Die uralte, immer neue Einsicht: Wir führen unsere Leben nicht. Das Leben führt uns. Und was von Beginn an in uns angelegt gewesen ist, verstehen wir so recht erst am Ende.
Und was lesen Sie sonst so?
Im Moment viel Mythologisches von C. G. Jung. Der hätte zum »Erwählten« sicher so manches zu sagen gehabt.
»Das Ganze war überhaupt eine dumme Idee«, sagt der 21-jährige Thomas Mann seiner Jugendfreundin Ilse. Dank ihres Drängens reist er dann doch nach Italien, gemeinsam mit Bruder Heinrich. Wie beide sich dort schicksalhaft verlieben, davon erzählt Matthias Lohre in seinem neuem Roman »Teufels Bruder«. Mehr als drei Jahre lang hat er daran gearbeitet. Leben und Werk Thomas Manns faszinieren ihn schon seit Teenagerzeiten. Der 48-jährige Schriftsteller, Sachbuchautor und Journalist lebt mit Frau und kleinem Sohn in Berlin.