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Die Autorin und Regisseurin Carolin Otto über den Roman »Erbarmen« von Lídia Jorge:

 

»Dieses Buch zieht einen mit und beschenkt durch seine Sprache.«

 

»Schön ist mein Leben. Ah! Ah! Oh! Vorsicht.« Das steht auf der Rück­seite des Buch­ein­bands und ist eine der kleinen Gedicht­notizen, die die Heldin an sich und die Welt mit ihrer steifen linken Hand auf kleine Zettel krit­zelt. Diese Notiz hat mich ent­zückt. Ich wollte meinen alten Lieb­lings­autor heraus­ziehen, aber wider Er­war­ten fiel es sehr leicht, meine aktuelle Lek­türe zu emp­fehlen, gerade erst auf Deutsch er­schienen: »Erbarmen« von der mir bis dato un­be­kann­ten portu­gie­sischen Autorin Lídia Jorge (Ich Banausin!), sehr schön über­setzt von Steven Uhly. Das Buch, dessen Ich-Erzählerin Dona Alberti im Alters­heim lebt, sich im Roll­stuhl be­wegen lassen muss und zwei kaputte Hand­ge­lenke hat, be­rührt mich viel­leicht des­halb so tief, weil meine Mutter gerade seit Mo­na­ten nach einer miss­glück­ten OP in einem Reha-Heim lebt und mit ihrem All­tag dort (und der Zukunft) kämpft, aber viel­leicht auch, weil klar ist, dass wir alle darauf an­ge­wiesen sind, dass uns andere Menschen im Alter helfen und ver­sorgen. Wie genau die Hand­lun­gen und die Auf­merk­sam­keit des Pflege­per­so­nals beo­bach­tet werden, wie sie über Glück und Un­glück der Alters­heim­be­wohner ent­scheiden. Wie wichtig die »Klei­nig­kei­ten« sind. »Die kleinen Dinge. Ich kon­zen­triere mich auf die kleinen Dinge.« Gutes Essen, geheime Liebes­bot­schaften, die Kämpfe mit der grau­samen Nacht um das ver­schwin­den­de Wissen. Dieses Leben, das nicht allzu fern von seinem Ende steht, wird, ich kann es nicht anders aus­drücken, mit An­mut, Witz und Weis­heit aus der Tris­tesse heraus­ge­schrieben. Es macht Spaß, strahlt Energie und Freude aus. Man muss Dona Alberti für ihre Hal­tung lieben, selbst wenn sie ihrer Tochter, einer (in ihren Augen er­folg­losen) Schrift­stel­le­rin, brutal nahe­legt, dass sie lieber über Menschen, die große Dinge voll­brin­gen und als Vor­bild taugen, schrei­ben solle, an­statt über Ver­lie­rer. Ihre Tochter er­widert: »Eine Schrift­stel­le­rin ist eine Frau, die mit dem Uni­ver­sum Liebe macht. Das ist alles.« Dieses Buch zieht einen mit und be­schenkt durch seine Sprache. An­sons­ten hätte ich Lion Feucht­wanger emp­foh­len. Die Warte­saal­trilogie. Passt gerade wieder.

Carolin Otto ist Dreh­buch­autorin, Re­gis­seu­rin und Pro­du­zen­tin. Nach ihrem Studium für Do­ku­men­tar­film und Dreh­buch pro­mo­vier­te sie an der Bau­haus-Uni­ver­si­tät Weimar über das Dreh­buch­schreiben. Sie schrieb unter anderem für »Tatort«, »Polizei­ruf« und »Der Bulle von Tölz«. Außer­dem sind die Kino­filme »Aphrodites Nacht« und »Der weiße Rabe – Max Mann­heimer« von ihr. Neben ihrer krea­ti­ven Arbeit en­ga­giert sie sich auch berufs­po­li­tisch – seit 2019 ist sie Präsi­den­tin der Federation of Screen­writers in Europe (FSE). Mit »Berchtesgaden« ist dieses Jahr ihr erster Roman erschienen. 

 

Erbarmen

von Lídia Jorge (2025)

 

 

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