Die Autorin Carolin Würfel über den Roman »Das Flüstern der Feigenbäume« von Elif Shafak:
»Shafak führt spielerisch leicht und historisch fundiert durch diese große Erzählung.«
Ich habe gerade das Buch »Das Flüstern der Feigenbäume« von der britisch-türkischen Autorin Elif Shafak gelesen, und es hat mich vollkommen verschlungen. Entdeckt habe ich es in meiner Istanbuler Lieblingsbuchhandlung »Minoa«, die auch einen schönen Laden in Berlin-Prenzlauer Berg hat.
Im Zentrum des Romans stehen die Liebesgeschichte zwischen Kostas, einem griechischen Mann, und Defne, einer türkischen Frau – und die politischen Kämpfe, die sich in den 1960er- und 70er-Jahren auf der Insel Zypern abspielten. Ich wusste bisher kaum etwas über Zypern – außer, dass Hannah Arendt einmal mit ihrer besten Freundin Mary McCarthy dort war und mit ihrer Minox-Kamera antike Stätten fotografiert hat.
Am meisten hat mich fasziniert, wie Elif Shafak die Geschichte konstruiert: Eine der Erzählerstimmen gehört einem weisen und herrlich schlagfertigen Feigenbaum. Sie (ja, der Baum ist weiblich) hat die Liebe von Defne und Kostas in all ihren Facetten miterlebt, die Verluste und Familiendramen. Und sie hat das donnernde 20. Jahrhundert überstanden – und dabei eine ganz eigene Stimme entwickelt. Genau das macht das Buch so besonders: Shafak führt spielerisch leicht und historisch fundiert durch diese große Erzählung.
Gleich am Anfang gibt es einen Absatz, der mich sehr berührt hat: »Eine Landkarte ist eine zweidimensionale Darstellung mit willkürlich gewählten Symbolen und eingezeichneten Linien, die darüber entscheiden, wer Feind und wer Freund ist, wer unsere Liebe, wer unseren Hass verdient und wer uns gleichgültig zu sein hat. Kartografie ist eine andere Bezeichnung für die Geschichten der Sieger. Für die Geschichten der Besiegten gibt es keine Kartografie.«
Für mich trifft dieser Absatz den Nerv unserer Zeit – und verweist auf all die Geschichten, die wir noch erzählen müssen.
Carolin Würfel, geboren 1986 in Leipzig, ist eine deutsche Journalistin und Schriftstellerin. Als freie Autorin schreibt sie viel für die ZEIT. Würfel ist bekannt für ihre literarischen Porträts und Essays, in denen sie gesellschaftliche und feministische Themen in den Mittelpunkt rückt. Nach zwei erfolgreichen Sachbüchern hat Carolin Würfel dieses Jahr ihren ersten Roman veröffentlicht. In »Zuhause ist das Wetter unzuverlässig« versucht sich die weibliche Hauptfigur in einer neuen Stadt am Meer von den Erwartungen und Mustern zu befreien, die ihr Leben bislang bestimmt haben. Was weiß sie von den widerständigen und hadernden Frauengenerationen in ihrer Familie?