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Die Politikerin Ricarda Lang über das Buch »Das Ende von Eddy« von Édouard Louis:

 

»Dieses Buch ist keine Abrechnung, sondern der Versuch, zu verstehen, und vielleicht auch, zu vergeben.«

 

Ich empfehle »Das Ende von Eddy« des fran­zö­si­schen Autors Édouard Louis. Eine Mi­schung aus Auto­bio­graphie und Roman. Louis erzählt in einer sehr poe­ti­schen Sprache die Ge­schich­te seiner Kind­heit auf einem Dorf in der Picardie. Auf­ge­wachsen ist er in armen Familien­ver­hält­nissen, ein All­tag, der ge­prägt ist von Pers­pek­tiv­losig­keit und Armut. Und von der Gewalt seines Vaters, der die Homo­sexua­li­tät des Sohnes nicht er­tragen kann.

Doch dieses Buch ist keine Ab­rech­nung, sondern der Ver­such, zu ver­stehen, und viel­leicht auch, zu vergeben. Wie auch in seinem späteren Buch »Wer hat meinen Vater um­ge­bracht?« ver­sucht Louis zu ver­stehen, wie mate­riel­les Elend Gewalt er­zeugt und wie diese von Gene­ra­tion zu Ge­ne­ra­tion weiter­ge­geben wird. Dabei hat mich auf der einen Seite Louis’ Empathie und Ver­söhn­lich­keit, ohne dabei irgend­etwas zu beschönigen, be­wegt und auf der anderen Seite seine wort­starke Wut gegen die Ver­hält­nisse, die seinen Vater zu dem Menschen machten, unter dem er litt.

Eine Art Mentor für Édouard Louis ist Didier Eribon, Autor von »Rück­kehr nach Reims«, dem Best­seller, in dem es eben­falls um das Milieu geht, dem Hoff­nung ab­handen­ge­kommen ist. Als Louis nach Paris kam, erfuhr er dort sehr zwie­spältig einer­seits das ins­pi­rie­ren­de intel­lek­tuelle Milieu, anderer­seits aber auch Arro­ganz und Vor­ur­teile auf­grund seiner Her­kunft. Ein Wanderer zwischen zwei Welten. Das, was für ihn eine Be­frei­ung war, fühlt sich gleich­zeitig wie ein Ver­rat an der eigenen Familie an. Diese spezi­fische Form der Schuld und auch das Gefühl des Fremd­seins, nir­gends wirk­lich rein­zu­passen, kenne ich von vielen Arbeiter­kindern, auch in der Politik.

Dass »Das Ende von Eddy« aktuelle Bezüge hat, liegt nahe. Sicher­lich gibt es Unter­schiede zwischen der für Frank­reich typischen Elite­bildung und den gesell­schaft­lichen Ver­hält­nissen in Deutsch­land. Die Frage, warum sich Menschen von der Demo­kra­tie ab­wen­den, stellt sich aller­dings hier wie dort. Im Bundes­tag erlebe ich ständig eine AfD, die sich offen gegen die Rechte von Arbeit­nehmern stellt, von dieser Klien­tel aber nichts­desto­trotz ge­wählt wird. Auch weil das Ver­trauen in die demo­kra­tischen Parteien ver­loren ge­gan­gen ist, dass sie ge­willt oder in der Lage sind, ihr Leben wirk­lich zu ver­bessern. »Das Ende von Eddy« ist nicht einfach nur ein Roman und auch nicht nur eine Anklage – es ist ein Auf­ruf zum poli­tischen Handeln.

Damit haben seine Bücher Ähn­lich­keiten zu den Werken von Annie Ernaux oder Ocean Vuong. Eribon, Louis, Ernaux und Vuong – ihnen allen gelingt es, Bio­graphie, gesell­schaft­liche Analyse und politischen Aufruf zu ver­binden und in großer Klar­heit Un­ge­rech­tig­keiten und Un­gleich­heit zu be­schreiben, ohne dabei selbst jemals zu Opfern zu werden. Sie stehen damit für mich in der Folge von Simone de Beauvoir und dem Streben, Subjekt zu sein und nicht von der Welt um uns herum zum Objekt gemacht zu werden.

Ich lese meistens parallel Belle­tris­tik und ein Sach­buch, gerade etwa die Bio­graphie von Wolf­gang Schäuble, da es mir wichtig ist, mich immer wieder auch mit den Gedanken­gängen von Menschen aus­ein­ander­zu­setzen, die politisch ganz wo anders stehen als ich. Als Jugend­liche habe ich sehr viel Fantasy gelesen.
Nach meinem Abschied als Co-Partei­vor­sit­zen­de habe ich als Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­te jetzt wieder mehr Zeit, um auf Bahn­fahrten zu lesen. Abends vor dem Schlafen­gehen wird das Mobile ig­noriert – das ist eine wunder­bare Zeit, um zu lesen.

 

Ricarda Lang, 31 Jahre alt, wuchs in Nürtingen auf und ist seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundes­tags. Zusammen mit Omid Nouripour war sie zwei Jahre lang Bundes­vor­sit­zen­de von Bündnis 90/Die Grünen. Kaum eine Politikerin hat so viel Hass und Häme auf­grund ihres Äußeren erlebt wie sie. Vor einem halben Jahr hat sie darüber in einem aus­führ­lichen Interview im ZEITmagazin berichtet.

 

Das Ende von Eddy

Édouard Louis (2016)

 

 

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