Der Bariton Christian Gerhaher über Georg Büchners Drama »Woyzeck«:
»Die wenigen Worte im ›Woyzeck‹ sind so treffend, so prägnant, so exakt, dass sie mir die größte Freude, eine Genugtuung sind.«
Welches Buch hat Sie kürzlich begeistert?
Was mich kürzlich erneut begeisterte, ist der »Woyzeck«. Wenn Georg Büchner nicht so früh gestorben wäre – er wäre sicher der größte deutsche Schriftsteller geworden. Was fehlt alles von diesem genialen Geist, das andere in Lebens- und Schaffensfülle hinterließen! Sein berühmtes Dramenfragment um den gesellschaftlich unterlegenen, geknechteten und getriebenen Soldaten Franz und die ihm untreue Marie zeigt, was einen Menschen dazu bringt, gewalttätig, ja ein Mörder zu werden.
Die wenigen Worte im »Woyzeck« sind so treffend, so prägnant, so exakt, dass sie mir die größte Freude, eine Genugtuung sind. Und mir als Sänger sind sie natürlich besonders nah in ihrer Fassung in Alban Bergs Oper »Wozzeck«. Berg hat ein bisschen umgestellt, ein wenig gerafft – aber in doch geringem Ausmaß: Was sonst eine Literaturoper ist, ist ja eigentlich immer problematisch. Hier nicht, es ist die sinnfälligste Art, Büchners Worte lebendig zu machen, so klar und fasslich, wie es vielleicht der kurze Satz des Hauptmanns ist: »Uff!« – oder Maries »Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel« oder Wozzecks: »Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann« und: »Wer kalt ist, den friert nicht mehr! Dich wird beim Morgentau nicht frieren« – es könnte einen das Grausen ankommen, bei diesen seinen Worten, bevor er Marie ersticht. Und man könnte meinen, dass die Trostlosigkeit des Woyzeck durch Bergs Vertonung vielleicht noch präzisiert, noch vermehrt worden ist, ich hingegen meine, dass Büchners Kein-Wort-zu-viel-Sagen sich ideal spiegelt in Bergs Kein-Ton-zu-viel, und das macht für mich – trotz aller Misere – den ungeheuren Spaß dieses Stücks aus: das Gefühl eines unmittelbaren Begreifens, eines herrlich klaren geistigen Erlebnisses.
Handelt es sich um ein Buch, das Ihrer Meinung nach gerade jetzt aktuell ist?
Die Aktualität eines Kunstwerkes im Sinne wovon? Von Tagesgeschäft? Muss ein Kunstwerk etwa eine direkte Antwort auf Corona-Mutationen, Dating-Plattformen, Handysucht oder den Ukraine-Krieg geben können, um bedeutend zu sein? Muss es andernfalls aktualisiert werden? Nein, denn Kunstwerke sind an sich »aktuell« – als ob sich das Leben der Menschen grundsätzlich änderte mit irgendwelchen technischen Fortschritten, Zeitgeisten oder Ereignissen. Es gilt noch immer: »Nichts Neues unter der Sonne«.
Was bleibt nach der Lektüre hängen?
Vergnügen.
Und was lesen Sie sonst so?
Kürzlich: Robert Walsers »Der Spaziergang«, F.W.J. Schellings »Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur« und Sara Paretskys »Critical Mass«.
Der Bariton Christian Gerhaher ist derzeit zweifellos einer der bedeutendsten Interpreten des Kunstlieds. Mit seinem Klavierpartner Gerold Huber tritt er seit Jahrzehnten in den wichtigen Konzertsälen und Festivals auf und begeistert das Publikum durch seinen ebenso reflektierten wie differenzierten Vortrag. Beide haben die meisten wichtigen Werke dieses Genres aufgenommen – so vor Kurzem das komplette Liedschaffen Robert Schumanns, eine Box mit elf CDs. In Kürze werden sie an der Münchner Hochschule für Musik und Theater beginnen, Liedinterpretation zu unterrichten. Der 52-Jährige ist auch ein gefragter Opern-Darsteller – im Moment ist er in einer Neuproduktion von Alban Bergs »Wozzeck« in Wien beschäftigt. Heute erscheint zudem sein »Lyrisches Tagebuch«. Darin schreibt er, ausgehend von einschlägigen Momenten seines Lebens als Sänger, über die mögliche Bedeutung zentraler Werke der Liedgeschichte (vor allem Schuberts, Schumanns und Mahlers) und über damit zusammenhängende aufführungspraktische Aspekte.