Die Schauspielerin Christiane Paul über »Roman eines Schicksallosen« von Imre Kertész:
»Der Ton der Erzählung ist weder mahnend noch belehrend, noch anklagend. Dass er diesen Ton gefunden hat, ist ein Geniestreich des Nobelpreisträgers Kertész.«
Ich habe zehn Monate lang in Budapest gedreht und dort gelebt. Wenn man sich längere Zeit im Ausland aufhält, braucht man ein Stück Heimat. In Budapest gibt es einen Laden in der Nähe der Basilika, der heißt Bestsellers und führt ausländische Literatur, auch deutsche. Dort sah ich den »Roman eines Schicksallosen« von Imre Kertész. Ach nein, dachte ich zunächst, was soll das jetzt? Ich habe das Buch dann aber doch mitgenommen und tatsächlich gelesen.
Es hat mich umgehauen. Im Nachhinein bin ich sehr froh darüber. Kertészs Art, fast humorvoll naiv auf die Zeitgeschehnisse zu blicken, ist anfangs verwirrend. Staunend liest man weiter, und gleichzeitig berührt es einen total. Die Erzählung ist autobiografisch, es geht um den jüdischen Jungen György, 15 Jahre alt, der während des Zweiten Weltkrieges in Budapest lebt. Er wird zu Zwangsarbeit verpflichtet und dann plötzlich ohne Ankündigung deportiert, zunächst nach Auschwitz, später nach Buchenwald. Er beschreibt, wie er dort selektiert wird, wie ihm ehemalige Häftlinge, die ihn in Auschwitz in Empfang nehmen, raten: Du musst direkt sagen, dass du älter bist. Erst später wird ihm klar, warum. Damit er nicht sofort in die Gaskammer geschickt wird.
Kertész beschreibt, wie György Auschwitz überlebt, etwa die Krankenstation oder schon halb in der Leichengrube liegend, kurz: wie er mit Glück und Verstand diese unbeschreibliche Zeit übersteht. Dies alles mit dem scheinbar naiven, spielerisch-kindlichen Blick, der staunend auf die Erlebnisse schaut. Schließlich kehrt er zurück nach Budapest, und das Erschütternde ist, dass die Welt sich weiterdreht. Halbverhungert kommt er an, aber niemand will ihn wahrnehmen, empathisch auf ihn zugehen, seine Geschichten hören, alles soll zugedeckt bleiben. Als er auf ein Ehepaar trifft, ebenfalls Überlebende des Holocaust, sagen die beiden ihm: Sag bloß nichts, lass es heilen, lass uns vergessen. Dass er nach allem, was er durchgemacht hat, in seiner gewohnten Umgebung keinerlei Reflexion der Ereignisse findet – das hat mich am meisten bewegt. Es gibt keine Entsprechung für den Schrecken, den er erlebt hat. Am Ende gibt es den Satz, dass das Glück auch zwischen den Schornsteinen von Auschwitz zu finden ist. Zwischen den Qualen gab es etwas, das dem Glück ähnlich war.
Eine Offenbarung ist der Roman auch, weil der Ton der Erzählung weder mahnend noch belehrend, noch anklagend ist. Dass er diesen Ton gefunden hat, ist ein Geniestreich des Nobelpreisträgers Kertész.
Als ich den Roman las, war mein Sohn 14 Jahre alt, fast genauso alt wie der Autor damals. Das macht etwas mit einem als Mutter, man hat keine ruhige Minute mehr. Es zieht einen total rein, es hat einen Sog, während das Gehirn doch weiterarbeitet und in dem Plauderton den Wahnsinn der Situation entdeckt.
Hinzu kommt, dass ich im jetzt wieder sehr lebendigen jüdischen Viertel von Budapest gewohnt habe. Der Schauplatz Budapest wird dadurch anders verarbeitet. Auch die aktuelle politische Situation nimmt man anders wahr, wenn man dort lebt.
Ob ich den Roman aktuell finde? Je weiter die Geschichte zurückliegt, desto eher distanzieren wir uns. Ich bin überzeugt, dass wir uns aktiv erinnern müssen an die Ungeheuerlichkeit des Holocaust und die Schrecken des 20. Jahrhunderts. Wir müssen dem Vergessen widerstehen. Kertészs Roman kann auf unkonventionelle Weise dabei helfen. Ein Buch, das tatsächlich jeder lesen muss.
Ansonsten lese ich alles, was mir über den Weg läuft oder mir geschenkt wird, gerade einen englischen Kriminalroman, »Sixteen Horses« von Greg Buchanan. Von Sally Rooney habe ich alle drei Bücher gelesen. In Erinnerung bleibt mir auch Celeste Ngs, »Little Fires Everywhere«, auf Deutsch »Kleine Feuer überall«.
Christiane Paul, Jahrgang 1974 und aufgewachsen in Ost-Berlin, hat ihr Medizinstudium abgeschlossen, bevor sie sich für das Schauspiel entschied. Viele ihrer Filme sind in Erinnerung, etwa »Das Leben ist eine Baustelle« oder »Steig. Nicht. Aus!«. Für ihre Hauptrolle in »Unterm Radar« wurde sie 2016 mit dem Emmy ausgezeichnet. Zuletzt im Kino zu sehen war sie mit »Es ist nur eine Phase, Hase« und als Frau Schlotterbeck im »Räuber Hotzenplotz«. In Budapest stand sie vor der Kamera für die CBS-Serie »FBI: International«.