Der Autor Steffen Kopetzky über den Roman »Die Insel des zweiten Gesichts« von Albert Vigoleis Thelen:
»Jeder Absatz beschenkt einen mit literarischen Einfällen und wundersamen Formulierungen, dass man aus dem Staunen und Lachen gar nicht mehr herauskommt.«
»Die Insel des zweiten Gesichts« von Albert Vigoleis Thelen kenne ich schon seit meiner Gymnasialzeit. Der Roman wurde mir vom Bibliothekar unserer Bücherei empfohlen, einem Literatur-Enthusiasten, der Thelen für einen der bedeutendsten Stilisten der deutschen Literatur ansah. Allerdings wagte ich mich an das umfangreiche Werk erst nicht heran. Später kaufte ich zwar in einem Antiquariat eine schöne Dünndruckausgabe, die ich mit meinem gesamten Hausrat von einer Wohnung treu in die nächste umzog. Aber auch wenn ich immer wieder einmal den Versuch unternommen hatte, es zu lesen, standen stets irgendwelche Befindlichkeiten oder Umstände dagegen.
Während der Arbeit an meinem jüngsten Roman, der mich tief in die Welt der russischen Geschichte und der deutschen Geopolitik der Zwischenkriegszeit führte, suchte ich nach einem ganz und gar anders gelagerten Buch für den Nachttisch, um zumindest während der letzten Minuten vor dem Schlafen ein wenig Abstand zum komplizierten Thema zu gewinnen. Da fiel mir der Thelen ein! Nach mehr als 30 Jahren also begann ich tatsächlich mit der ernsthaften Lektüre dieses Mallorca-Romans, auch wenn sie nur in kleinen, nächtlichen Portionen stattfand. Aber was für ein Wunder! Hat man sich einmal an den Ton von Thelens Sprache gewöhnt, so wirkt der Zauber unmittelbar. Jeder Absatz beschenkt einen mit literarischen Einfällen und wundersamen Formulierungen, dass man aus dem Staunen und Lachen gar nicht mehr herauskommt.
Es ist natürlich die Figur des Ich-Erzählers selbst, des liebenswürdigen Vigoleis. Er erzählt uns den Roman, von der Ankunft zusammen mit seiner Frau Beatrice im Mallorca der späten Dreißigerjahre. Es mangelt nicht an eigentümlichen Charakterköpfen, ausgekochten Schlawinern (Zwingli, der Schwager, zum Beispiel!) und auch nicht an frommen Huren, exzentrischen englischen Dichtern, Gräfinnen oder pfiffigen Schmugglern, sodass man sich mit vielen Figuren mehr oder weniger identifizieren kann. Aber doch ist es der Erzähler, Ritter vom Wort und Menschenfreund selbst, mit dem man am meisten mitfühlt.
Einerseits erinnert man sich für immer an die eigenwillige Schilderung eines Mallorcas vor dem Zeitalter des Massentourismus. Andererseits ist es die Geschichte eines Liebespaars auf der Flucht vor den Faschisten. Was in Erinnerung bleibt, ist aber auch eine witzige und unerschütterliche Erzählerstimme, geistig hoch gestimmt, empathisch, der Kleinigkeit zugeneigt, die einen Straßenköter mit ebensolcher Aufmerksamkeit beschreibt wie einen alten Granden. Vermutlich ist »Die Insel des zweiten Gesichts« der Roman der deutschen Literatur mit dem größten Wortschatz. Thelen liebte Wörterbücher aller Art, wusste seine Funde aber stets dem Vergnügen der Lektüre förderlich einzusetzen, sodass selbst ein beschlagener Literat wie ich auf beinahe jeder Seite neuerlich ins Staunen gerät. Der alte Bibliothekar hatte recht!
Für meine historischen Romane lese ich Literatur aller Art, natürlich auch Romane, Erzählungen und Gedichte der jeweiligen Epoche, historische Werke, sehr oft militärhistorische Analysen. Ich studiere Geheimdienstprotokolle und Ministerialnoten, überhaupt Korrespondenz. Greife aber auch sehr gerne auf die Produkte der Alltagsliteratur zurück und arbeite mich durch Zeitungen und periodische Druckwerke aller Art. Oft ist die Lektüre der kleingedruckten Anzeigen aufschlussreich für das Verständnis einer Zeit.
Steffen Kopetzky, Jahrgang 1971, ist Autor von Büchern, Hörspielen und Theaterstücken, darunter die Romane »Monschau«, »Propaganda« und »Risiko«. Im August 2023 erschien sein Roman »Damenopfer« über die deutsch-russische Weltrevolutionärin Larissa Reissner von ihrer Reise nach Deutschland 1923 bis zur Beerdigung 1926 in Moskau. Als Komintern-Beauftragte sollte Reissner Berichterstatterin und Verbindungsagentin für die Revolution in Deutschland sein. Im Frühjahr 2024 gibt Kopetzky die Reportagen Larissa Reissners heraus (»1924 – Eine Reise durch die Deutsche Republik«). Steffen Kopetzky lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Pfaffenhofen an der Ilm.