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Der Politiker und Rechts­anwalt Gerhart Baum über den Essay­band »Eine Fliege kommt durch einen halben Wald« von Herta Müller:

 

 

»Eine Analyse der tief­grei­fen­den Ver­let­zun­gen der Menschen­würde im 20. Jahr­hun­dert.« 

 

Mit großem Gewinn lese ich die Bücher der Schrift­stel­lerin und Nobel­preis­trä­gerin Herta Müller, der ich viele An­re­gun­gen ver­danke. Ich habe sie kennen­ge­lernt als eine hoch­in­ter­es­san­te Ge­sprächs­part­ne­rin, eine außer­or­dent­lich stand­haf­te, sen­sib­le Frau, die dem nach­spürt, was in den Menschen steckt, und die für ihre Ziele auch zu kämp­fen weiß.

Emp­fehlen möchte ich ihr jüngstes Werk, den Essay­band »Eine Fliege kommt durch einen halben Wald«. Das Thema dieses Buchs ist eine Analyse der tief­grei­fen­den Ver­let­zun­gen der Menschen­würde im 20. Jahr­hun­dert. Fest­ge­macht wird dies an Müllers eigenem Schick­sal als Ver­folgte und Unter­drück­te in Rumänien.

Aus­gehend vom Be­griff der Menschen­würde ana­ly­siert die Autorin, was in diesen Zeit­läuften mit dieser Menschen­würde passiert ist. Das bezieht sich nicht nur auf die Dik­ta­tur der Nazis, sondern auch auf Ost­europa. Wir haben immer über die unter­drückte DDR ge­sprochen, aber nicht über die Staaten in Ost­europa, die durch Hitler und Stalin ihre Frei­heit ver­loren.

Herta Müller fragt: Wie soll man unter diesen Um­stän­den leben? Und wie über­windet man die Dik­ta­tur? Inter­es­sant ist der Hin­weis auf den Flucht­ge­dan­ken. Wie wir das in der DDR ja vor Augen ge­habt haben, sind Mil­lio­nen der dort Unter­drück­ten stän­dig mit dem Ge­dan­ken um­ge­gan­gen: Wie kön­nen wir fliehen? Müssen wir fliehen? Was ist Heimat?
Sehr in­ten­siv wird auf unsere deutsche Nach­kriegs­ge­schich­te ein­ge­gan­gen, zum Bei­spiel auf die nach dem Zweiten Welt­krieg zu­nächst völ­lig aus­ge­blen­de­te Si­tuation, dass uns nicht erst das Phänomen der zwölf Mil­lionen Heimat­ver­trie­be­nen er­reicht hat, sondern dass vorher in großem Um­fang eine Ver­trei­bung der Nazi-Gegner, ins­be­son­de­re der Juden, statt­ge­fun­den hatte.

Wie ist unsere Gesell­schaft nach dem Krieg mit diesen Ver­let­zun­gen der Menschen­würde um­gan­gen? Hier habe ich auch meine eigenen Lebens­er­fah­run­gen bei­zu­steuern: Ich bin sehr früh politisch aktiv ge­worden. Unsere Fest­stel­lung war damals: Die alten Nazis sind noch da … Es hat sehr lange ge­dauert, bis wir Deutschen uns mit unserer Ver­gan­gen­heit offen und ehr­lich aus­ein­an­der­ge­setzt haben. Diese Er­in­nerungs­kultur durch­zieht das Buch, und ohne sie hätten wir eine Demo­kra­tie nicht auf­bauen können. Aller­dings kri­ti­siert Herta Müller zu Recht, dass sie, als sie 1987 in der Bundes­re­pu­blik an­ge­kommen war, nicht als Emi­gran­tin aus einem Unter­drückungs­staat wahr­ge­nommen wurde, sondern dass man ihr unter­stellte, eine Agentin dieses Staates zu sein.

Es ist wichtig, Zeit­zeugen wie Herta Müller heute zu lesen.

 

Der Politiker und Rechts­anwalt Gerhart Baum, 1932 in Dresden ge­boren, war viele Jahre lang erfolg­reich tätig als Ab­geord­ne­ter im Bundes­tag, Par­la­men­ta­ri­scher Staats­se­kre­tär und später als Innen­minister unter Bundes­kanzler Helmut Schmidt. Er gilt als der profi­lier­tes­te Ver­treter des link­liberalen Flügels der FDP und hat sich mehrmals mit Ver­fassungs­be­schwerden einen Namen gemacht. Baum wird häufig um Stellung­nahme ge­be­ten, wenn es um den Schutz der Bürger­rechte geht oder wenn Über­wachungs­maß­nahmen des Staates über­hand­nehmen. Als Anwalt vertrat er unter anderem die sow­jetischen Zwangs­arbeiter gegen die Bundes­regierung. 2021 wurde Baum mit dem Marion Dönhoff-Preis aus­gezeichnet.

 

Fliege kommt durch einen halben Wald

Herta Müller (2023)

 

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