Der ZDF-Korrespondent Michael Bewerunge über den Roman »Der Seewolf« von Jack London:
»So starke und kühne Worte«
Ich lese gerade viel von Jack London, den ich im vorigen Jahr wiederentdeckt habe. 2023 tobte der blutige Konflikt in der Ukraine schon länger als ein Jahr. Und ich versuchte als Korrespondent in Israel mit meinen Berichten und Analysen vergeblich darauf hinzuweisen, dass der Nahe Osten ebenfalls vor einer Explosion steht, wenn die Welt weiter wegschaut. Wie und wann das geschehen würde und mit welcher Brutalität und Grausamkeit, das habe natürlich auch ich nicht geahnt.
Zunächst war es nur ein Zitat von Jack London, zufällig aufgeschnappt, das mich beeindruckte. »Unsere Aufgabe ist zu leben, nicht zu existieren. Ich verschwende meine Tage nicht mit dem Versuch, sie zu verlängern. Ich nutze meine Zeit.« Das hat mein Interesse an dem Mann geweckt, der so starke und kühne Worte schreibt.
Der amerikanische Schriftsteller, Journalist und Fotograf Jack London (1876–1916) war zu seinen Lebzeiten einer der erfolgreichsten Autoren der Welt. In seinen Büchern geht es um den ewigen Konflikt: das Gesetz der Natur gegen das Gesetz des Menschen, der Kampf des Stärkeren gegen den Schwächeren. Das Recht des Stärkeren gegen das Recht der Moral. Skrupellosigkeit gegen Humanismus. Dieser Kampf hat Jack London in seinem gesamten literarischen Schaffen umgetrieben.
In seinem Meisterwerk »Der Seewolf« hat er ihn auf die Spitze getrieben. Der großstädtische Journalist Humphrey van Weyden gerät als Schiffbrüchiger an Bord des Robbenfänger-Schiffs »Ghost« und in die Fänge des grausamen Kapitäns Wolf Larsen. Vordergründig dreht sich die Handlung um den physischen Kampf zweier Männer um ihr blankes Leben. Im Kern und in Wahrheit interessiert den Autor Jack London der Kampf der Worte, der Lebensphilosophien. Hier das Gesetz des Lebens, des nackten Über-Lebens, das dem reinen, skrupellosen Selbsterhalt folgt. Da die Moral, die an ihre Grenzen stößt, wenn der Überlebenswille stärker ist als alles andere und Gewalt nicht nur als die einzige Wahl, sondern moralisch geboten erscheint. Es ist das ewige Dilemma menschlichen Zusammenlebens, das die beiden Protagonisten Wolf Larsen und Humphrey van Weyden jeder auf seine Weise unerbittlich ausfechten. Hier der selbstbezogene Egoist, der dennoch als Autodidakt Darwin und Nietzsche gelesen hat, der Schopenhauer und Shakespeare zitieren kann. Und der über solche Kräfte verfügt, dass er eine rohe Kartoffel mit der Hand zerquetschen kann. (Wenn wir Babyboomer irgendeine Szene aus unserer eindimensionalen, linearen Streaming-Existenz der Siebzigerjahre erinnern, dann diese Szene mit Raimund Harmstorf aus dem legendären ZDF-Vierteiler.) Und auch einen Menschen kann er vernichten.
Auf der anderen Seite der schöngeistige Bildungsbürger van Weyden, der an den Grenzen seiner hohen Moral verzweifelt. Und irgendwann doch selbst das Messer zieht und auf seinen Widersacher losgeht. So viel sei verraten: Dieser erbarmungslose Kampf bis zum Tod endet auch für den Gewinner und seine Weltanschauung mit unbequemen Einsichten.
Jack London als Kommentar zum heutigen Weltgeschehen zu lesen und zu verstehen, ist nicht einfach. Nicht immer ist der Stärkere auch der Skrupellose, hat der Schwächere das Recht auf seiner Seite. Und selbst wer sich auf Recht und Moral berufen kann, darf sie nicht skrupellos und ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzen. Wann ist Gewalt moralisch gerecht? Wo endet Moral, wo beginnt Unrecht? Eine eindeutige Antwort darauf findet auch Jack London nicht. Aber wie kaum einem Zweiten gelingt es ihm, dass dem Leser dieser unauflösliche Widerspruch unter die Haut fährt.
Spätestens seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres kennen Fernsehzuschauer Michael Bewerunge als Kriegsreporter. Der ZDF-Korrespondent berichtet aus Israel sowie aus den palästinensischen Autonomiegebieten. Intensiv verfolgt er seit Monaten alle Entwicklungen des Konflikts um den Gazastreifen, analysiert, interviewt und ordnet ein. Vorher berichtete er aus Sachsen und war Korrespondent in Rom für Italien, den Vatikanstaat und Griechenland.