Der Städel-Museumsdirektor Philipp Demandt über »Die Erinnerungen der Malerin Vigée-Lebrun«
»Eine Frau geht ihren Weg. Im Zeitalter der Aufklärung. Über alle Grenzen und Hürden hinweg.«
Begeistert haben mich gerade die Erinnerungen der Malerin Élisabeth Bigée-Lebrun (1755–1842), von der wir in der aktuellen Ausstellung »Renoir. Rococo Revival« im Städel Museum zwei herausragende Gemälde zeigen können.
Die atemberaubende Karriere dieser Malerin beginnt mit skandalösen Gemälden im Ancien Régime, sie wird zur Hofmalerin des Königshauses, erlebt die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege, flieht durch ganz Europa, porträtiert alles, was Rang und Namen hat, erlebt die Restauration, die Julirevolution, den Bürgerkönig, alle Wechselfälle der französischen und europäischen Geschichte. Immer auf sich allein gestellt. Lebensläufe durch solche Epochenumbrüche haben mich immer fasziniert, vom 18. ins 19. ebenso wie vom 19. ins 20. Jahrhundert, eine Zeit, die wimmelt von ungemein mutigen, kreativen, kompromisslosen und widerständigen Männern und Frauen, Gestalten, gegen die manch vermeintlicher Exzentriker von heute jämmerlich lahm und angepasst erscheint.
Was bei mir nach der Lektüre hängen geblieben ist? Eine Frau geht ihren Weg. Im Zeitalter der Aufklärung. Über alle Grenzen und Hürden hinweg. Und das in einer Zeit, in der für Frauen viel mehr möglich war als dann im späten 19. Jahrhundert. Denn Geschichte ist nicht immer Fortschritt. Auf Progression folgt Regression. Das sollte uns zu denken geben.
Was ich sonst so lese? Aktuell gerade das Buch »Europäische Sumpfschildkröten. Lebensweise, Haltung, Nachzucht« von Bernd Wolff. Im Übrigen, ganz generell: Ich habe nie verstanden, wie man etwas Ausgedachtes lesen kann, wo doch die Wirklichkeit so unendlich viel spannender ist. Und auch mein Leben ist so interessant, dass ich weder Ablenkung noch Zerstreuung gebrauchen kann. Aus diesem Grund lese ich ausschließlich Sachbücher, am liebsten Biografien, gerne Autobiografien. Besonders erhellend ist es, erst die Autobiografie und gleich danach die Biografie einer Person zu lesen, denn oft könnten die Perspektiven (nicht zuletzt auf die entsprechenden Lebenslügen) gar nicht unterschiedlicher sein – dem Satz von Max Frisch gemäß: »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.«
Philipp Demandt, Jahrgang 1971, hat Kunstgeschichte, Archäologie und Publizistik studiert. Von 2012 bis 2016 leitete er die Alte Nationalgalerie in Berlin, seit 2016 ist er Direktor von drei Frankfurter Kunstinstitutionen: Städel Museum, Liebieghaus und Schirn. Viel beachtet waren etwa die Ausstellungen »Lotte Laserstein« (2018) oder »Fantastische Frauen« (2020). Mit »Making van Gogh« verantwortete Demandt die erfolgreichste Ausstellung in der Geschichte des Städel Museums. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der baulichen Weiterentwicklung der Museen.