Der Arzt und Autor Dietrich Grönemeyer empfiehlt den historischen Roman »Der Name der Rose« von Umberto Eco:

»Welch ein Gleichnis für den unstillbaren Erkenntnisdrang des Menschen, für die fortdauernde Suche nach der Wahrheit«

 

Obwohl sie keine Musiker sind, spielen manche ein Instrument, um in dem Beruf, den sie ausüben, kreativ sein zu können. Albert Schweitzer, der weltberühmte Arzt, setzte sich immer wieder an die Orgel. Zahllose Bilder zeigen Albert Einstein mit der Violine. Ohne die Musik, sagte er einmal, wäre er es ihm nie gelungen, die Relativitätstheorie zu begründen. Die Beschäftigung mit Kunst und Literatur beflügelt, sie befreit den Geist und weckt Ideen; egal, auf welchem Gebiet man tätig sein mag, in der Naturwissenschaft, der Medizin oder auch der Politik. Man denke nur an den Pianisten Helmut Schmidt. Dabei kommt es gar nicht auf die Perfektion an, sondern darauf, die Phantasie zu beleben, den Mut, Neues zu denken und anzupacken. Bei mir waren es immer die Bücher, die mir die Kraft gaben, auch als Arzt – in der Heilkunst – unbekannte Wege einzuschlagen. Das Schreiben und das Lesen, das vor allem. Schon als Kind habe ich Reisebeschreibungen verschlungen, Reportagen und Erlebnisberichte, die mich in fremde Welten entführten, öfter in den fernen Osten, nach China oder Indien. Auch in die Vergangenheit ließ ich mich von den Autoren gern mitnehmen, immer fasziniert von der Vorstellung des in der Gegenwart Unvorstellbaren. Später fand ich dann heraus, dass vieles, was da literarisch gestaltet vorkam, durchaus mit dem Leben, wie wir es heute führen in Verbindung stand. Das ist keine besondere Erkenntnis, ich weiß. Darauf kommen vermutlich die meisten von uns in ihrem Lese-Leben. Als junger Mann aber war es für mich gleichwohl eine Entdeckung. Ich spürte und verstand, was mir die Literatur zu geben vermochte. Heute bin ich überzeugt, dass vieles, was ich zum medizinischen Fortschritt beitragen durfte, ohne die literarischen Begegnungen nie gelungen wäre. Nach manchen Büchern, die mir dazu verhalfen, greife ich immer wieder. Sie sind mir zu Freunden geworden. Eben lese ich, nun schon zum zweiten oder dritten Mal, wieder in Umberto Ecos großartigem Roman »Der Name der Rose«. Welch ein Gleichnis für den unstillbaren Erkenntnisdrang des Menschen, für die fortdauernde Suche nach der Wahrheit, spannend erzählt und weit hinausweisend über das 14. Jahrhundert, in dem sich das klösterlich geheimnisvolle Geschehen zuträgt, die Geschichte des Franziskaners William von Baskerville und seines Adlatus Adson. Noch immer fesselt mich der Roman, wahrlich ein dicker Wälzer, von der ersten bis zur letzten Seite, und das umso mehr, als die mittelalterliche Klostermedizin eine der Schultern ist, auf denen wir als Ärzte bis heute stehen. Erinnert sei nur an Hildegard von Bingen, die heilige Heilerin vom Rupertsberg hoch über dem Rhein. Nicht zu reden von den Einblicken in die Untiefen des menschlichen Charakters. Ist es nicht nach wie vor so, dass viele – oftmals die kleineren Geister – ihre Erkenntnisse eifersüchtig hüten, statt sie mit anderen zu teilen, dass sie Neues nicht dulden wollen: keine Götter neben sich? Jedenfalls habe ich persönlich diese Erfahrung im Laufe meines ärztlichen Lebens wiederholt machen müssen. Und es war dann immer gut, wenn ich zu einem Buch greifen konnte, das mich auf andere Gedanken brachte, den Kopf frei machte und das eigene Erleben relativierte. Mir hat das stets geholfen, Kraft zu schöpfen und nicht die Lust an der Entwicklung neuer, bisweilen revolutionärer Verfahren medizinischer Behandlung zu verlieren. Ein Leben ohne Bücher? Ich kann es mir nicht vorstellen.

 

Dietrich Grönemeyer gilt als einer der renommiertesten Ärzte Deutschlands. Der ältere Bruder von Herbert Grönemeyer ist außerdem auch erfolgreicher Autor. In seinem neuesten Buch »Naturmedizin und Schulmedizin!« hat er sein gesammeltes Gesundheitswissen über wichtige Volkskrankheiten niedergeschrieben. Sein Kinder- und Jugendbuch »Der kleine Medicus« geht 2021 mit vier weiteren Bänden pro Jahr in Serie. Die Botschaft für Erwachsene wie Kinder: Der Mensch muss in der Medizin im Mittelpunkt stehen.

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