Die Sängerin Dota Kehr über den Roman »Das siebte Kreuz« von der Schriftstellerin Anna Seghers:
»Der Roman ist nicht nur spannend, er ist auch poetisch und unglaublich gut verdichtet. Es ist kein Wort zu viel.«
Ich empfehle dieses Buch, das so vielen als Schullektüre bekannt und – wie bei Schullektüre üblich – vielleicht verhasst ist. Und ich empfehle es mit Nachdruck und von Herzen. Auch wenn man als Leser mit einer unüberschaubaren Vielzahl von Figuren herausgefordert wird und auch wenn die Sprache etwas antiquiert anmutet und dem Leser mehr Konzentration abverlangt als die anderer Autoren. Sobald man sich nach ein paar Seiten an den Stil gewöhnt hat, wird man von der packenden Geschichte mitgenommen und von der sprachlichen Schönheit und Verdichtung begeistert sein.
Ich selbst habe in meiner Schulzeit nichts von diesem Roman gehört, sondern bin damit in Berührung gekommen, weil ich sehr gerne Christa Wolf lese. In Christa Wolfs tagebuchähnlichem »Ein Tag im Jahr« erwähnt sie Anna Seghers – zu dieser Zeit Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbandes – und »Das siebte Kreuz« mit so viel Ehrerbietung, dass es mich neugierig gemacht hat. Das siebte Kreuz ist ein Zeugnis seiner Zeit und ein Roman gegen den Faschismus. Aber es ist auch eine atemberaubend spannende Erzählung. Die Flucht des Kommunisten Georg Heisler aus dem KZ, seine Anlaufstellen auf der Suche nach Unterschlupf, die Momente der Flucht, in denen er immer wieder knapp der Entdeckung entrinnt. Die zahlreichen Nebenfiguren, die in Szenen »eingeblendet« werden und sich mit der Fluchtgeschichte abwechseln, sind einzelne kleine Geschichten, kunstvolle Mini-Erzählungen, wenn man so will. Manche Nebenfiguren werden für den Hauptstrang des Romans wichtig, manche lernen wir mit ihrer eigenen Geschichte und Vergangenheit besser kennen, andere bleiben unbedeutende Begegnungen – wie im echten Leben. Auch Personen, die gar nicht mit dem flüchtenden Heisler in Kontakt treten, aber sich aus der Ferne um ihn sorgen, kommen vor. Der Reigen der Figuren zeigt beispielhaft seine Zeit: die Mitläufer und die überzeugten Nationalsozialisten, die Schlägertypen, die Wagemutigen und die still in sich zurückgezogenen Dissidenten. Die alten kommunistischen Netzwerke sind unter der Bedrohung durch die Gestapo brüchig geworden. Heisler weiß nicht, an wen er sich wenden kann – wen er damit unweigerlich in größte Gefahr bringen wird. Und wir als Leser wissen es ebenso wenig und bangen mit ihm. Am meisten hat mich die Szene berührt, in der Georgs Kindheitsfreund Paul, bei dem er sich versteckt, in der Fabrik seine Kollegen mustert und abwägt, wen er ansprechen kann. Sein Leben und das seiner Familie hängen von dieser Entscheidung ab. Wer aus dem alten Netzwerk wird ihn nicht verraten? Wer hat noch Kontakte, die weiterhelfen können?
Tatsächlich schien das anschaulich Beispielhafte und Landestypische der vielen Charaktere und ihrer Geschichten schon damals aufgefallen zu sein, so dass amerikanische Soldaten 1943 Exemplare einer gekürzten Fassung des Romans quasi als Landeskunde bekamen. »Das siebte Kreuz« ist fast zeitgleich auf Deutsch – im mexikanischen Exil der Autorin – und in englischer Übersetzung in den USA erschienen. Der Roman ist nicht nur spannend, er ist auch poetisch und unglaublich gut verdichtet. Es ist kein Wort zu viel. Alle Figuren sind so knapp und treffend beschrieben. In meiner eigenen Kunstform – dem Liedtext – ist mir die Herausforderung vertraut, in möglichst wenig Wörtern Figuren lebendig werden zu lassen und Geschichten zu erzählen. Dieser Roman ist ein Meisterstück der Verdichtung.
Im Gegensatz zu vielen anderen von mir hochgeschätzten Romanen hat »Das siebte Kreuz« kaum autobiografische Bezüge zum Leben der Autorin, außer der Tatsache, dass Anna Seghers aus Mainz stammt und ihre Geschichte dort und in der Umgebung spielen lässt. Diese fehlenden autobiografischen Parallelen lassen mich die Autorin umso mehr bewundern. Die Bedingungen, unter denen der Roman geschrieben wurde, sind so außergewöhnlich, dass ich sie wenigstens kurz erwähnen möchte: Anna Seghers war mit ihren Kindern auf der Flucht, während sie 1938/39 im französischen Exil »Das siebte Kreuz« schrieb. Wie schwierig muss es gewesen sein, Recherchen anzustellen. Von vier Manuskripten blieb nur eins erhalten, das sie an ihren deutschen Verleger in den USA geschickt hatte. Eins gab sie einem Bekannten mit, der es auf der Flucht verlor, eins verbrannte bei einem Bombenangriff in einem Haus, eins fiel der Gestapo in die Hände – sie selbst behielt keine Kopie des Manuskripts aus Angst, dass es bei ihr gefunden werden könnte. Auch die spätere Rezeptionsgeschichte dieses Romans (zeitgleich im geteilten Deutschland) ist einmalig, sprengt aber hier den Rahmen. Man möge die Deutschlehrer*innen seines Vertrauens dazu befragen.
Ich bin jedenfalls überzeugt, dass die beschriebenen inneren Vorgänge der Figuren nicht nur die damalige Zeit widerspiegeln, sondern auch für uns heute noch Bedeutung haben. Über Integrität und innere moralische Konflikte, über das wasRecht und Unrecht bedeutet. Abschließend soll diese Empfehlung mit dem letzten Satz aus dem Roman enden: »Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äußeren Mächte in den Menschen hineingreifen können bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, dass es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.«
Die Sängerin Dota Kehr hat Medizin studiert, ist nach ihrem Examen aber lieber als Straßenmusikerin rumgereist. Seit 2013 veröffentlicht sie mit ihrer Band unter dem Namen Dota sehr erfolgreich ihre eigene Musik. Im Juli diesen Jahres ist ihr neuestes Album erschienen. Es heißt »Wir rufen dich, Galaktika« und ist unbedingt hörenswert →
Unser Kollege Jens Tönnesmann schrieb vor Jahren in der ZEIT: »Wer nach einem Kompass sucht, weil er nicht mehr so genau weiß, was er in diesen Tagen für gut und richtig halten soll: mal zu einem Konzert von Dota gehen.« Und auch wenn das mit den Konzerten im Moment so eine Sache ist, den richtigen Kompass für Klimafragen, Digitalisierung und Gerechtigkeit kann man in ihren Texten auf jeden Fall finden.