ZEIT-Feuilletonistin Elisabeth von Thadden über das Sachbuch »Kopf, Hand, Herz – Das neue Ringen um Status: Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen« von David Goodhart:
»Seine Analyse hat eine Substanz an Detailkenntnissen, die im üblichen medialen Wortüberfluss rar sind.«
Wie oft sind mir in diesen Mehltau-Monaten die Buchseiten beim lesenden Blättern in der Hand eingeschlafen? Dauernd. Vielleicht, weil meine Müdigkeit sie angesteckt hat, oder weil die Buchseiten sich selbst so gähnend langweilig finden, da sie nichts Beflügelndes beitragen können, wenn‘s ernst wird … Aber dann stand in einem der Bücher, das ich testweise müde aufschlug, vorneweg als Widmung zu lesen: »Für meine Kinder, in der Hoffnung, dass sie endlich einmal etwas lesen, das ich geschrieben habe«, und da war es um mich geschehen. Der gute Mann, der da schrieb, verstand etwas von Vergeblichkeit, etwas von Hoffnung. Goodhart sein Name. Ich habe alsdann, was alle Jubeljahre vorkommt, weil man ja auch sonst manches zu tun hat oder eben einschläft, David Goodharts Buch »Kopf, Hand, Herz« in einem Zug gelesen, Seite für Seite. Der Grund ist einfach. Dieses Buch antwortet auf Corona und auf das Elend, in das wir als moderne Gesellschaft dadurch geraten sind, dass alle Berufe, alle Tätigkeiten, die mit Hand und Herz ausgeführt werden, kaum bemerkt und honoriert werden. Pflege, Handwerk et cetera. Während sich die kopfgesteuerten Akademiker mit ihren sinnstiftenden Spaßberufen wichtig finden und prachtvoll bezahlt werden. Es müsste umgekehrt sein, oder zumindest doch gleicher. Dann würden die Menschen nicht aus den systemrelevanten Berufen, um das Wort noch einmal auszusprechen, davonlaufen, weil es ihnen an Anerkennung und Wertschätzung fehlt. Der Brite David Goodhart, der schon in mehreren furchtlosen Büchern bewiesen hat, dass er den Zahnschmerzen der vermeintlichen Leistungsgesellschaft bis in die Wurzelspitzen auf den Grund gehen will, ist weder Sozialist noch Zahnarzt, er ist ein zutiefst besorgter Nachdenkender, der die Forschung präzise kennt und zugleich von Schwiegermutter und Freunden erzählt, deren Biografien ihn zum Nachdenken brachten. Seine Analyse hat eine Substanz an Detailkenntnissen, die im üblichen medialen Wortüberfluss rar sind. Den Kindern von Goodhart wünsche ich, dass sie sich die Wichtigtuer ruhig egal sein lassen, aber dieses Buch sollten sie unbedingt lesen.
Elisabeth von Thadden ist Feuilleton-Redakteurin und Erfinderin der philosophischen Seiten »Sinn & Verstand« in der ZEIT. Auf ZEIT ONLINE fragt sie in der Serie »Worüber denken Sie gerade nach?« regelmäßig führende Forscherinnen der Geistes- und Sozialwissenschaften, was sie in der Krise zu bedenken geben und worüber sie sich nun den Kopf zerbrechen. Außerdem ist Elisabeth selbst Buchautorin. »Die berührungslose Gesellschaft« hat sie vor Corona veröffentlicht. Durch die Pandemie hat das Buch eine ungeahnte Resonanz erfahren.