Der Historiker und Autor Ewald Frie über den Roman »Die Nacht unterm Schnee« von Ralf Rothmann:
»Was diesen großartigen Autor ausmacht, ist, dass er verschwinden kann.«
Wenn es um Belletristik geht, bin ich ein Buchflaneur. Als ich »Die Nacht unterm Schnee« in der Buchhandlung liegen sah, habe ich hineingelesen und entschieden, mich dem Berliner Autor Ralf Rothmann noch einmal zu stellen. Vor einigen Jahren haben mich die Hauptfiguren seines Romans »Hitze« lange begleitet. Was diesen großartigen Autor ausmacht, ist, dass er verschwinden kann. Seine Sprache ist dem Gegenstand so angemessen, dass ich beides nicht mehr unterscheiden kann. Ich stecke direkt in der Geschichte drin. Einen weiteren Roman Rothmanns habe ich daher zwar angelesen, dann aber aufgegeben. Ich kam den Akteuren so nahe, dass ich ihr Elend nicht ertragen konnte. Die Faszination für Rothmanns Kunst blieb. Beim Schlendern durch die Buchhandlung kam ich daher an seinem neuen Buch nicht vorbei.
Das große Thema von »Die Nacht unterm Schnee« sind die Traumatisierungen des Zweiten Weltkriegs. Die Handelnden verstehen ihre Traumata kaum, weil sie nicht über das Handwerkszeug dazu verfügen. Die nächste Generation wird in die Traumatisierungen hineingezogen, ohne persönlichen Bezug zu der Welt, aus der die Traumatisierungen stammen. So muss es auch mir gegangen sein, einem Kind der Nachkriegszeit, Geburtsjahr 1962.
Vordergründig geht es in dem Roman um Elisabeth, Liesel genannt. Auf der Flucht von Danzig Richtung Westen wird sie im Winter 1944/45 mehrmals von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Sie wäre an den Folgen gestorben, hätte sie nicht ein weiterer sowjetischer Soldat gesundgepflegt. Dieser Soldat kommt seinerseits noch vor der Genesung Elisabeths ums Leben. Alleingelassen erreicht die junge Frau Kiel. Dort beginnt die eigentliche Handlung, erzählt aus der Sicht einer jüngeren Freundin Liesels. In ihre Ich-Erzählung sind die traumatisierenden Ereignisse wie Flashes eingebaut. Später wechselt der Schauplatz der Erzählung, typisch Rothmann, ins Ruhrgebiet. Gerahmt wird die Erzählung von einem Informationsaustausch zwischen der nun älter gewordenen Freundin und Liesels Sohn, in dem wir den Schriftsteller Rothmann erkennen mögen. Selbstironie spricht aus einer kurzen Sequenz der Freundin, der Sohn wolle zu Recht über seine Mutter schreiben, denn im Grunde habe ein Schriftsteller ja nie mehr als sein eigenes Leben zu erzählen.
Ich habe »Die Nacht unterm Schnee« sehr gern gelesen. Wie bei »Hitze« werden mich die Hauptfiguren dieses Textes eine Weile begleiten. Für diese Empfehlung habe ich das Buch ein zweites Mal gelesen. Der Text würde auch eine dritte Lektüre rechtfertigen.
Zu meinen Lesegewohnheiten: Ich lese den ganzen Tag, absichtsvoll und zweckorientiert – Sachbücher, Fachliteratur, Dinge, die im Netz zu finden sind, Quellen. Abends und am Wochenende möchte ich mich lesend treiben lassen, ein Flaneur sein. Da möchte ich kennenlernen, was mich anspricht. Oder was zur Stimmung passt. Was ich in meiner Freizeit lese, muss nicht unbedingt lustig sein. Da kommt eine wilde Mischung heraus, kürzlich etwa »Tante Martl« von Ursula März, »Der große Sommer« von Ewald Arenz oder von dem von mir sehr geschätzten Ian McEwan mit seinen »Lektionen«.
Belletristik macht mir Freude. Ich hoffe, dass sie mich auch formt. Ich möchte wissenschaftliche Texte so schreiben, dass sie seriös, verantwortbar und doch auch elegant sind. Da können Leseerfahrungen helfen, die ästhetischen Ansprüchen genügen. Ich hoffe, dass meine planlose Flaneur-Lektüre Früchte trägt.
Ewald Frie, Jahrgang 1962, hat Geschichte und katholische Theologie studiert und ist seit 2008 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen. Während der Corona-Pandemie konnte der Historiker ein geplantes Projekt nicht fortsetzen – so reiste er zu seinen Geschwistern und recherchierte in der eigenen Familie. Daraus wurde der Sachbuch-Überraschungserfolg des Jahres: Der Titel »Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben« ist inzwischen in der 14. Auflage erschienen und mit dem deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet worden. Darin schildert er die Veränderungen der Landwirtschaft am Beispiel des Familienbetriebs im Münsterland, auf dem er aufgewachsen ist.