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Die Piper-Verlegerin Felicitas von Lovenberg über den Roman »Morgen, morgen und wieder morgen« von Gabrielle Zevin: 

»Zevin macht keinen ihrer Protagonisten zum Helden, sondern zeigt jeden eingebettet in seine Zwänge, Sehnsüchte und Vorstellungen.«

 

Unbedingt empfehlen möchte ich den Roman »Morgen, morgen und wieder morgen« von Gabrielle Zevin. Das Buch ist mir immer wieder be­geg­net, und ich muss ge­stehen, dass ich alle Zeichen, die sagten, dieses Buch solltest du lesen, viel zu lange ignoriert habe. Die Scouts, die im Verlags­ge­schäft eine große Rolle spielen, hatten be­geis­ter­te Lektüre­ein­schät­zungen dazu, dann erschien der Roman im ver­gan­ge­nen Jahr in den USA, erntete hervor­ragende Kritiken und wurde zum Best­seller. Im Früh­jahr dann kam er auf Deutsch, übrigens sehr gut über­setzt von Sonia Bonné, und war im Gespräch – und ich wachte endlich auf.

Der Grund, wes­halb ich so lange nicht auf das Buch an­sprang, lag klar an seinem Pitch: Die Geschichte von zwei, eigent­lich drei Jugend­freunden, die in den Neunzigerjahren zu Stars in der Welt der Computer­spiele werden, schien mir meilen­weit ent­fernt von meinen Lese­vor­lieben. Weil es ver­mutlich vielen Menschen ähn­lich geht, ist der Roman hier­zu­lande, anders als in Amerika, immer noch ein Geheim­tipp – zu Un­recht. Denn es ist vor allem die Geschichte einer Freund­schaft, die die amerikanische Schrift­stellerin und Dreh­buch­autorin Gabrielle Zevin hier er­zählt, mit allen Höhen und Tiefen, mit Liebe, Eifer­sucht und Kon­kur­renz, Für­sorge und Be­wun­derung.

Sadie und Sam lernen sich als Kinder auf eher tragische Weise kennen, in einem Kranken­haus, wo Sam Patient ist und Sadie ihre ältere Schwester besucht. Im Warte­zimmer spielen sie »Super Mario« mit­ein­ander und werden darüber unzer­trenn­lich – bis ihre Freund­schaft ein erstes Mal an einer Ent­täusch­ung zer­bricht.

Jahre später begegnen sich Sadie und Sam im Studium wieder und be­schließen, zusammen ein Computer­spiel zu ent­wickeln. »Ichigo« wird zum Sensations­erfolg, weitere folgen, und die gemeinsame Firma »Unfair Games« wächst rasant. Doch Sadie und Sam sind keine Kinder mehr, die Welt wird kom­pli­ziert und die Freund­schaft auch. Zevin macht keinen ihrer Prota­go­nis­ten zum Helden, sondern zeigt jeden ein­ge­bet­tet in seine Zwänge, Sehn­süchte und Vor­stellungen – und da­durch ver­steht man, warum die Krea­ti­vi­tät, die sie eint, sie zu­gleich zu Rivalen macht. Was bleibt, ist Sub­li­mierung und das, was Lebens­freund­schaft aus­macht, in aller Viel­schich­tig- und Wider­sprüch­lich­keit.

Dank Tonio Schachingers »Echtzeitalter« wird ja gerade viel über die literarische Dar­stellung von Computer­spielen und den ver­meint­lichen Gegen­satz von Lek­türen und Ver­senkung in digitale Welten ge­sprochen – wie genial das zusammen­geht, hat vor einigen Jahren übrigens schon Nathan Hill im Roman »Geister« auf un­ver­gess­liche Weise vor­ge­macht. Und auch, wenn ich nach all diesen ein­dring­lichen Lektüren nach wie vor nicht ver­sucht bin, es mal mit Computer­spielen zu probieren, ist mein Ver­ständ­nis für die künst­lerische Dimension und den Reiz dieser Welt ein anderes geworden.

Wo ich am liebsten lese, fragen Sie? Ich lese eigent­lich über­all – am liebsten am Steh­pult oder auf einem Stuhl mit gerader Lehne sitzend, also nicht auf dem Sofa oder im Sessel oder im Bett, da ist die Gefahr zu groß, dass mein Schlaf­mangel sich bemerk­bar macht und ich nicht weit komme. Früher habe ich mich immer ge­wun­dert, dass mein »FAZ«-Kollege Marcel Reich-Ranicki sagte, er lese nicht im Bett, sondern aus­schließ­lich am Schreib­tisch und im Anzug, auch aus Respekt vor den Büchern. Heute kann ich das absolut nach­voll­ziehen.

Felicitas von Lovenberg ist eine höchst erfolg­reiche Seiten­wechs­lerin: Acht­zehn Jahre lang arbeitete sie als Redakteurin im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, zuletzt ver­ant­wort­lich für das Ressort Literatur. Daneben moderierte sie die Fern­seh­sen­dun­gen »Literatur im Foyer« und »Lesens­wert« im SWR. 2016 wurde sie Ver­legerin des Piper Verlags. Dem traditions­reichen Münchner Haus hat sie inzwischen etliche Best­seller ver­schafft, in jüngster Zeit etwa »Eine Frage der Chemie« von Bonnie Garmus oder »Schönwald« von Philipp Oehmke. Zwölf Jahre lang gehörte sie dem Stiftungs­rat des Friedens­preises des Deutschen Buch­handels an und wurde unter anderem mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literatur­kritik ausgezeichnet.

 

Morgen, morgen und wieder morgen

von Gabrielle Zevin (2023)

 

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