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Der Soziologe Heinz Bude über das Sachbuch »Gordon Matta-Clark. Moment to Moment: Space«. Herausgegeben von Hubertus von Amelunxen, Angela Lammert und Philip Ursprung:

»Diese eigentümliche Mischung aus sozialer Chirurgie und mystischer Klarheit hat mich die vergangenen Wochen der Pandemie hindurch schwer beschäftigt.«

 

Entdeckt habe ich kürzlich die Dokumentation eines Symposiums unter dem Titel »Moment to Moment: Space«, das im April 2007 an der Akademie der Künste in Berlin stattgefunden hat. Es geht darin um den US-Amerikaner Gordon Matta-Clark, als Konzeptkünstler einer der großen Frühvollendeten des 20. Jahrhunderts. Er war mit seiner »Anarchitektur« (das Wort ist eine Mischung aus Anarchie und Architektur) das Vorbild für spätere Stararchitekten wie Peter Eisenman und Rem Koolhaas. Berühmt ist seine Aktion »Splitting« geworden, die man auf YouTube in einem Zusammenschnitt anschauen kann. Gordon zerteilt mit einer mächtigen Motorsäge ein Haus aus einer Vorstadt in New Jersey und löst die beiden Hälften dann von dem gemauerten Sockel. Das war im Frühjahr 1974. Die Box, in der eine Familie ihr Leben zugebracht hat, soll für das Licht geöffnet werden. Diese eigentümliche Mischung aus sozialer Chirurgie und mystischer Klarheit hat mich die vergangenen Wochen der Pandemie hindurch schwer beschäftigt. 1978 ist Gordon mit 35 Jahren gestorben. Ein Jahr nach »Splitting« hatte er notiert: »My understanding of art in a social context is an essentially generous human act, an individually positive attempt to encounter the real world through expressive interpretation.« (Unter Kunst im sozialen Kontext verstehe ich eine völlig großzügige menschliche Handlung, einen absolut individuellen Versuch, der realen Welt mit einer starken Deutung zu begegnen.) Solche Sätze passen für mich zur aktuellen Situation einer notgedrungenen Reduktion der sozialen Kontakte und der Angst vor dem gänzlichen Verlust des gemeinsamen Lebens. Man muss wach sein, großzügig im Geiste bleiben und auf eine unvermutete Begegnung mit der wirklichen Welt hoffen. Ich mag keine Bücher, die nichts wagen und die eigentlich nur der Bestätigung der Person des Autors dienen. Ich muss in meinem Beruf viel Betriebsprosa lesen und will deshalb auch immer mal wieder weggerissen oder verführt werden. Ich wusste schon lange von Gordon Matta-Clark und habe dann zufällig diesen eher akademisch daherkommenden Band in einer Buchhandlung gefunden, die geöffnet hatte. Da wusste ich, der war für mich bestimmt. Ansonsten hilft mir Georges Simenon. Ich kann Maigrets auch mehrmals lesen. Die menschlichen Tragödien, die möglicherweise auch nebenan in unserer Straße passieren, beruhigen mich, weil sie mir sagen, dass niemand aus seiner Haut kann und deshalb die Leute im Zweifelsfall ziemlich rätselhaft sind.

 

Ein »origineller Deuter der Verhältnisse« sei Heinz Bude, hieß es kürzlich in der ZEIT. »Es gibt kaum ein Phänomen seit 1945, das vor ihm sicher ist.« Ausgiebig widmet er sich Fragen wie: Was verbindet, was trennt Generationen? Was spaltet die Gesellschaft? Wie entsteht Solidarität? Heinz Bude, Jahrgang 1954, versteht es, die Ergebnisse seiner Forschung so darzustellen, dass das allgemeine Publikum und die Fachwelt gleichermaßen davon profitieren. Eines seiner erfolgreichsten Bücher, »Die Gesellschaft der Angst« (2014), gilt als Standardwerk. In Tübingen und Berlin studierte er zunächst katholische Theologie, dann Soziologie, Philosophie und Psychologie. Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel ist er seit mehr als 20 Jahren. Jetzt hat er sich zum ersten Mal an Prosa gewagt und zusammen mit seiner Frau, der Schriftstellerin Karin Wieland, und der Künstlerin Bettina Munk den Roman »Aufprall« verfasst. Ort der Handlung ist die West-Berliner Hausbesetzer­szene der Achtzigerjahre. »Hier ist nichts frei erfunden«, heißt es vorweg. »Die Geschehnisse nicht, der Ort nicht. Nur die Figuren sind Mischfiguren, in denen wie im Traum die Züge verschiedener Gefährtinnen und Gefährten zusammengezogen sind …« Um ein sehr besonderes Haus, das zum Objekt einer Inszenierung wurde, geht es unter anderem auch in dem Buch, das Bude hier empfiehlt.

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