Die ZEIT LEO-Chefredakteurin Inge Kutter empfiehlt den Roman »Demon Copperhead« von Barbara Kingsolver:
»Besonders bewegt haben mich die Passagen, in denen der Ich-Erzähler Demon über seine Heimat im Bundesstaat Virginia nachdenkt.«
»Demon Copperhead« habe ich in diesem Sommer gleich zweimal gelesen – ein doppelter Genuss! Den ich auch für die kommenden unwirtlichen Herbstwochenenden empfehlen kann – ein bisschen Zeit braucht man für die 800 Seiten allerdings.
Zunächst war ich vor allem begeistert davon, wie Barbara Kingsolver die Handlung des viktorianischen Klassikers »David Copperfield« in die USA der Gegenwart überträgt. Die Parallelen zwischen David und Demon, Agnes und Angus haben mich aber auch so in Anspruch genommen, dass ich das Buch am Ende noch mal vorne aufschlagen musste. Erst jetzt konnte ich ganz in die Geschichte eintauchen, in der ein Pflegejunge versucht, zwischen Kinderarbeit auf giftigen Tabakfeldern und leicht zugänglichen Drogen nicht unter die Räder zu kommen.
Besonders bewegt haben mich die Passagen, in denen der Ich-Erzähler Demon über seine Heimat im Bundesstaat Virginia nachdenkt. Er bezeichnet sie als Landstrich, der der gesamten Nation und wohl auch Gott am Arsch vorbeigeht: Die Kohleschätze sind abgebaut und abtransportiert, zurückgeblieben sind arbeitslose Menschen, die ihre Schmerzen mit Mitteln betäuben, vor deren Suchtfaktor sie nicht gewarnt werden. Dennoch sieht Demon in seinen Landsleuten keineswegs die unfähigen Hinterwäldler, als die sie oft beschrieben werden: Sie können sich im Notfall selbst versorgen – Hirsche schießen, Fische angeln und Kürbisse ziehen –, und sie pflegen eine Gemeinschaft, die ihnen durch viele Krisen hilft.
Ich habe das Buch in meinem Elternhaus in einem niederbayerischen Dorf gelesen; zwischendurch hat eine Nachbarin geklingelt und den Überschuss ihrer Zucchini-Ernte vorbeigebracht. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie ich früher die Kinder aus dem Münchner Speckgürtel bemitleidet habe: Die Armen mussten in Reihenhäusern mit schlafzimmergroßen Gärten wohnen, während wir x-fach so viel Platz hatten und die Wälder zum Spielen fast vor der Haustür! Diesen Blick in einem Roman wiederzufinden, fand ich schön. Mit »Demon Copperhead« schafft Barbara Kingsolver ein Verständnis für die Lebenswelt Provinz, das im Augenblick wichtiger ist denn je, um der gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken – in den USA wie hier.
Inge Kutter ist Chefredakteurin des Magazins ZEIT LEO, das Kindern zwischen 7 und 13 Jahren die Welt in spannenden Geschichten nahebringt. In diesem Jahr hat sie zudem die Serie »Die ZEIT auf dem Land« ins Leben gerufen, die zum Entdecken der Provinz einlädt und Stadtmenschen bei der Entscheidung hilft, ob Rausziehen für sie in Frage kommt.