Der Cellist Jan Vogler über den Roman »Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner« von Omer Meir Wellber:
»Omer nimmt ein sehr ernstes Thema, das Trauma der verlorenen Heimat der nach Israel emigrierten europäischen Juden, und erzählt es mit Chuzpe, überbordender Fantasie und einem fast schrulligen Humor.«
»Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner« von Omer Meir Wellber ist im Oktober 2019 erschienen und hat mich restlos begeistert. Omer ist nicht nur Autor, er ist auch ein sehr vielseitiger Dirigent und Musiker. Das Buch erinnert mich deshalb auch sehr an Musik. Es gibt eine sehr komplizierte Struktur, die Zeitebenen springen vor und zurück, alles ist aber flüssig und spielerisch verbunden, wie bei einem Musikstück!
Ob das ein Buch ist, das gerade jetzt aktuell ist? Unbedingt! Omer nimmt ein sehr ernstes Thema, das Trauma der verlorenen Heimat der nach Israel emigrierten europäischen Juden, und erzählt es mit Chuzpe, überbordender Fantasie und einem fast schrulligen Humor. Ich habe viele Bücher zu diesem Thema gelesen. Hier schreibt eine neue Generation über ein viel besprochenes Thema, eine neue Sichtweise wird entfaltet. Chaim ist der Antiheld dieses Buches, kein Historiker, kein Gebeutelter, sondern ein 108 Jahre alter aus Ungarn stammender Entwurzelter, der für die Geschichte Israels steht. Der Autor hält uns anhand der alten Geschichte auch den Spiegel für unsere Zeit vor. Das alles geschieht schnell und wendig. Mir gefällt die verschmitzte Art, mit der das Buch in einem sehr hohen Tempo den Leser in eine Art Achterbahn zwingt. Wie man das bei einem sehr guten Buch gewohnt ist – nach der letzten Seite hat der Leser das Gefühl, sich selbst ein Stück besser zu kennen! Wenn es sich um Kunst und Kultur handelt, darf man ruhig ein wenig missionarisch sein! Ich empfehle Bücher, Filme, Musik und Theater ganz ungeniert nach meinem eigenen Geschmack. Wenn mir ein Buch so gut gefällt wie dieses, empfehle ich es ohne Einschränkung. Ich bin mit einer sehr großen und vielseitigen Bibliothek im Hause meiner Eltern in Ost-Berlin aufgewachsen. Später habe ich viele Jahre ohne Fernsehen gelebt, habe unglaublich viel gelesen. In den vergangenen Jahren wächst der Stapel der Bücher, die ich unbedingt lesen möchte, wieder – es fehlt die Zeit zum Lesen. Aber mit viel Vergnügen habe ich gerade »A Moveable Feast« (»Paris – ein Fest fürs Leben«) von Ernest Hemingway gelesen. Nach 25 Jahren Leben in New York kommt mein Englisch langsam in einen Bereich, in dem es Spaß macht, die tollen englischen und amerikanischen Autoren in Originalsprache zu lesen.
Jan Vogler besitze die Gabe, sein Violoncello »wie eine Singstimme sprechen lassen zu können«, schrieb die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Zahlreiche Preise erhielt der 1964 in Berlin geborene Musiker für beispielhafte Einspielungen von berühmten Cello-Konzerten, sowohl für Orchester als auch kammermusikalische Werke. Wie innovativ Vogler denkt und arbeitet, beweist auch sein Projekt »New Worlds«, ein mit dem Schauspieler Bill Murrray entwickeltes musikalisch-literarisches Projekt mit Werken von Mark Twain, Walt Whitman und Ernest Hemingway, in Konfrontation mit Kompositionen von Johann Sebastian Bach oder Dimitri Schostakowitsch. Etliche von Voglers Auftritten sind im vergangenen Jahr Corona zum Opfer gefallen, aber ein Künstler wie er lässt sich nicht entmutigen und ist der Ansicht, dass das Musik-Leben wieder auferstehen wird, wenngleich mit anderen Akzenten. Kürzlich wurde sein Vertrag als Intendant der Dresdner Musikfestspiele ein weiteres Mal verlängert. Diese finden nun nach über einem Jahr Corona-bedingter Pause vom 4. bis 13. Juni 2021 wieder im Livebetrieb vor Publikum statt. Und es gibt sogar noch Tickets.