Janina Kugel, Ex-Siemens-Vorständin, über die Memoiren »Als der Tag begann« von Liz Murray:
»Ja, die Gesellschaft bricht an manchen Stellen auseinander. Aber es gibt sie doch, die Solidarität. Nicht nur in diesem Buch, sondern auch sichtbar in Corona-Zeiten. Und das berührt mich immer aufs Neue.«
Ich empfehle das Buch »Als der Tag begann« von Liz Murray, den Bericht einer jungen Frau über ihre traumatische Kindheit und Jugend unter prekären Umständen in der New Yorker Bronx. Ich habe dieses Buch schon vor ein paar Jahren gelesen, und es ist mir in nachhaltiger Erinnerung geblieben. Eine Geschichte, die überall auf der Welt und jederzeit stattfinden könnte. Zeitlos und immer wieder beeindruckend. Sie erzählt von einem unglaublichen Willen, das scheinbar Unmögliche zu schaffen. Vom Glauben daran, dass ein guter Schulabschluss der einzige Weg ist, um aus dem Teufelskreis auszubrechen, der das Leben von Liz Murrray lange Zeit bestimmt hat. Von viel Mut und von Menschen, die ihr geholfen haben, das Ziel zu erreichen. Jeder mit dem, was er dazu beitragen kann – die einen mit Geld, andere mit Essen, wieder andere mit Nachhilfe. Ich erinnere mich an eine Frau in dem Buch, die (sinngemäß) sagt: Ich habe selbst kein Geld, um dir zu helfen. Aber ich kann dir anbieten, deine Wäsche zu waschen.
Halten Sie das Buch gerade jetzt für aktuell?
Ja, dieses Buch ist unbedingt auch heute noch aktuell. In Zeiten von Covid-19 sprechen wir so häufig darüber, dass die Krise ungleiche Chancen noch sichtbarer gemacht hat. Und doch wissen wir alle, dass die Welt voller Ungerechtigkeiten ist. Ein Mädchen, das im Grunde keinerlei Voraussetzungen dafür mitbringt, um an einer Top-Universität einen Abschluss zu machen. Aber die es trotzdem schafft. Und dabei die Hilfe von vielen bekommt, sogar von Fremden. Im Buch schreibt sie dazu: »At first I didn’t trust it. And then they just gave and asked for nothing back.« (Anfangs habe ich nicht darauf vertraut. Aber dann … haben sie einfach gegeben und nichts dafür zurückverlangt.) Das ist doch ein toller Satz. Ja, die Gesellschaft bricht an manchen Stellen auseinander. Aber es gibt sie doch, die Solidarität. Nicht nur in diesem Buch, sondern auch sichtbar in Corona-Zeiten. Und das berührt mich immer aufs Neue.
Wem würden Sie diese Lektüre eher nicht empfehlen?
Weniger empfehlenswert ist diese Lektüre für Menschen, die nicht daran glauben, dass es manchmal so was wie Wunder gibt.
… und was lesen Sie sonst so?
Ich lese unterschiedliche Zeitungen und bei Büchern meist Belletristik, und zwar querbeet. Zuletzt etwa waren das: »Herkunft« von Saša Stanišić und »Vielen Dank für das Leben« von Sibylle Berg, »Meine geniale Freundin« von Elena Ferrante oder »Piccola Sicilia« von Daniel Speck. Manchmal sind es Rezensionen, die mich zum Kauf verleiten, oft Geschenke von Freunden oder aus der Familie und viele Leihgaben. Dann macht ein Buch die Runde.
Janina Kugel, Managerin und bis vor kurzem Vorständin bei Siemens, berät als Senior Advisor internationale Firmen, darunter auch die Bundesregierung (Rat der Arbeitswelt, Innovation Council). Vor kurzem war Janina Kugel zu Gast im ZEIT-Podcast »Das Politikteil«. Dort sprach sie mit den KollegInnen über Geschlechterrollen und eine gerechtere Arbeitswelt.