© Lennart Schneider

ZEIT-Redakteur Jens Tönnesmann über den Roman »Sechzehn Wörter« von Nava Ebrahimi:

»Eine Familiengeschichte, die sich wie ein Puzzle zusammensetzt und am Ende ganz anders aussieht, als die Teile es vermuten lassen.«

Ich habe eine Angewohnheit, die auf manche verstörend wirkt: Wenn ich ein Buch lese, dann knicke ich die Seiten ein – und zwar oben und unten. Ein Eselsohr oben markiert eine Lese-Unterbrechung: Hier geht’s beim nächsten Mal weiter. Ein Eselsohr unten markiert eine Stelle, die mir besonders gefallen hat. Im Buch »Sechzehn Wörter« von Nava Ebrahimi habe ich unten sehr viele Seiten eingeknickt, zum Beispiel gleich die erste: Die Erzählerin fühlt sich von einem Wort ihrer Muttersprache überfallen und in seine Gewalt gebracht – und erst, indem sie es übersetzt, entwaffnet sie es, befreit sich aus seiner Geiselhaft und damit gleichsam aus einem Schwindel, der es sich jahrelang »im Unübersetzten hatte (…) einrichten können«. Ich mochte diese Stelle sofort, aber erst auf den folgenden 300 Seiten entfaltet sich ihre Bedeutung. Als ihre Großmutter stirbt, beginnt die Hauptfigur Mona, sich ihre Herkunft und Identität gewisser­maßen zu übersetzen: Sie reist aus Köln, wo sie lebt, in den Iran, in dem sie geboren wurde. Statt mit ihrem Freund auf einem Konzert Songs mitzugrölen, findet sich Mona auf einer sieben­tägigen Beerdigungszeremonie wieder, am Grab wiegt sie sich zum Singsang ihrer Mutter wie eine Schiffschaukel, später massiert das Gemurmel der Trauergäste ihren verspannten Nacken, die Zeit staut sich zu einem tiefen, dunklen See (knick, knick, knick). Ausgerechnet als eine Frau auf Knien eine Art Trauershow abzieht, stellt Mona sich vor, mit welchen Sprüchen ihre Großmutter die Szenerie kommentiert hätte. Erst in dieser heimlichen Freude wird so richtig fühlbar, wer sie für Mona gewesen ist, und es ist ein Beispiel dafür, wie die Geschichte Traurigkeit mit Heiterkeit auskontert.

Nach der Trauerfeier beginnt Mona eine aufregende Reise durch den Iran, unterbrochen durch Rück­blenden, die Stück für Stück von ihrem Leben erzählen, in dem sie einer Bekannten schon mal als Untersuchungsgegenstand für eine Doktorarbeit über die Fremd- und Selbstwahrnehmung von Muslimen in Deutschland herhalten muss. In Nebensätzen erfahren wir früh, dass Monas Vater auch gestorben ist und ihre Mutter den Nachnamen eines später in Deutschland geheirateten Wolfi »trotz allem« behalten hat. Und die Erzählerin verrät, dass sie einen gewissen Ramin »nach der Episode auf dem Wasserbett und der Neuigkeit, die er mir darauf mitteilte« auf der Reise eigentlich nicht wieder treffen will (sie tut es dann doch). Alles Cliffhanger in einer Familiengeschichte, die sich wie ein Puzzle zusammensetzt und am Ende ganz anders aussieht, als die Teile es vermuten lassen.

Kurz gesagt: »Sechzehn Wörter« ist auch ein spannendes Buch, was erklärt, warum ich oben auf den Seiten nur so wenige Knicke hinterlassen habe. Das liegt wohl auch daran, dass ich in dem Roman Parallelen zur Wirklichkeit entdeckt habe. Denn »Sechzehn Wörter« hat viele Bezüge zur Biografie der Autorin, die das Buch ihrer Großmutter gewidmet hat, selbst in Teheran geboren wurde und in Köln aufgewachsen ist, wo ich sie kennengelernt habe, als wir zeitgleich an der Kölner Journa­listenschule studiert haben. Nava Ebrahimi wurde dann erst Journalistin, bevor sie 2017 mit »Sechzehn Wörter« ihren ersten Roman veröffentlicht hat, sie bekam dann prompt den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises. In diesem Sommer hat sie mit einem Text den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. 2020 ist ihr zweiter Roman erschienen, er heißt: »Das Paradies meines Nachbarn«, ich habe ihn gerade angefangen. Den ersten Knick oben habe ich nach 55 Seiten gemacht, den ersten unten auf Seite 16.

Unser Kollege Jens Tönnesmann schreibt für das Wirtschaftsressort der ZEIT – vor allem über Unternehmen und Unternehmer, Gründer- und Geldthemen. Kein Wunder, dass sein ZEIT-interner Workshop »Geldanlagen« bei über 50 Kursen als Erstes ausgebucht war. Als Journalist treibt ihn an, herausfinden zu wollen, was andere antreibt: Warum erfinden Erfinder und gründen Gründer? Warum machen Macher und unternehmen Unternehmer? Aber auch: Warum zocken Zocker, betrügen Betrüger und beuten Ausbeuter aus? Besonders unvergessliche Momente auf seinen Recherchen hatte er dabei auf einer Zugfahrt mit Carla Del Ponte, bei der sie ihm von ihrer Jagd auf Kriegsverbrecher und Mafiosi erzählt hat, und joggend in San Francisco mit Philipp Rösler, als der noch Vizekanzler war.

 

Sechzehn Wörter 

Von Nava Ebrahimi (2017)

Nava Ebrahimi, 1978 in Teheran geboren, studierte Journalismus und Volks­wirtschaftslehre in Köln und arbeitete als Redakteurin bei der »Financial Times Deutschland«. Sie zählt zu den spannendsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In ihrem Debütroman ​​»Sechzehn Wörter« beschließt die Protagonistin Mona anlässlich des Todes der Großmutter ein letztes Mal in ihre Heimat, den Iran, zu fliegen. Gemeinsam mit ihrer Mutter wagt sie sich in die trügerische Heimat. Die Reise wird für Mona zu einer Konfrontation mit der eigenen Identität und Herkunft, über die so vieles ungewiss ist.

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