Die Schriftstellerin Katharina Hagena über den Roman »Die Zeuginnen« von Margaret Atwood:
»Ich glaube, es gehört zu den Büchern, die man gerade denen ans Herz legen möchte, die man selbst am wenigsten versteht. Und den anderen sowieso.«
Kürzlich begeistert hat mich tatsächlich Margaret Atwoods »The Testaments« (»Die Zeuginnen«). Nach 34 Jahren der Folgeband von »Der Report der Magd«. Letzteres habe ich aber unmittelbar davor noch mal gelesen. Ich glaube nicht, dass es nötig gewesen wäre, aber für mich war es so eine besonders intensive, großartige Lese-Erfahrung. »Die Zeuginnen« ist ein hochaktuelles Buch. Es geht um patriarchalische Strukturen, um das Leben in einem totalitären Regime, aber auch um Moral und letztlich darum, was gut ist und was böse. Menschen, die ich im ersten Band scharf verurteilt habe, bekommen im zweiten eine Vorgeschichte, und plötzlich können wir ihre Handlungen nachvollziehen. Je mehr wir über jemanden wissen, desto schwerer fällt es uns, dieser Person die Empathie zu verweigern. Mir gefiel, dass ich diesen Erkenntnisprozess während der Lektüre selbst durchlaufen musste. Ich glaube, es gehört zu den Büchern, die man gerade denen ans Herz legen möchte, die man selbst am wenigsten versteht. Und den anderen sowieso.
Von Atwood lese ich übrigens alles. Ebenso alles, was neu herauskommt von Jeanette Winterson, A. S. Byatt, Julian Barnes, Siri Hustvedt, Jonathan Franzen und immer wieder neue Bücher von neuen Autorinnen. Von Toni Morrison kommt leider nichts Neues mehr heraus, also lese ich die anderen noch mal. Wenn ich mich gerade nicht auf Unbekanntes einlassen möchte, greife ich auf Romane zurück, die ich schon hundertmal gelesen habe, wie die von Charlotte und Emily Brontë, von Virginia Woolf oder Gabriel García Márquez, Homer und Wolfram von Eschenbach. Ovid geht eigentlich auch immer. Doch wenn ich ganz schwermütig bin, hilft nur Jane Austen, die mir freundlich, wenngleich ein wenig ungeduldig, einen Moment des Suhlens gewährt, um mich dann mit leisen, ironischen Sätzen wieder in die Aufrechte zurückzupiksen. Zurzeit lese ich aber fast nur Sachbücher für die Roman-Recherche, doch darüber darf ich nicht reden, sonst löst sich alles auf …
Über ihren nächsten Roman verliert Katharina Hagena also noch kein Wort – ihre Fangemeinde wartet sehnsüchtig auf den Nachfolger ihrer Erfolgswerke »Der Geschmack von Apfelkernen«, »Vom Schlafen und Verschwinden« und »Das Geräusch des Lichts«. Zuletzt hat Hagena, die ihre Promotion über James Joyces Jahrhundertroman »Ulysses« verfasste, eine ungewöhnliche Liebeserklärung an »ihre« Insel verfasst: »Spiekeroog«.