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Der Autor Moritz Rinke über das Tagebuch »Ein alter Mann wird älter« von dem Theaterchronisten und Journalisten Günther Rühle:

»Man spürt bei jedem Eintrag von Oktober 2020 bis April 2021 diese unfassbare Energieleistung, fast blind, mit zwei Fingern getippt, 220 Seiten.«

 

Das Buch des Jahres hat ein alter, weißer Mann geschrieben. Er ist nicht um die 50, wie die jüngeren der alten, weißen Männer, sondern er ist fast doppelt so alt. Kann man mit 97 Jahren noch ein Buch schreiben, das sogar noch wacher und irgendwie jünger wirkt als viele andere Bücher der sogenannt Jungen? Günther Rühle, der Theaterchronist des letzten Jahrhunderts, hat es vollbracht. Seine Bücher »Theater in unserer Zeit«, »Theater für die Republik« und »Anarchie in der Regie« sind Standardwerke, es geht um die Jahre der Weimarer Republik, um das Theater nach der Nazi-Diktatur, um die Sechziger- und Siebzigerjahre. Nun hat er, nach acht Bänden über Alfred Kerr, ein neues Buch geschrieben, ein Tagebuch: »Ein alter Mann wird älter«, geradezu ein Standardwerk über das Altsein, vielmehr: über den Versuch, im Alter nicht »zu veralten«, wie Rühle es nennt. Man spürt bei jedem Eintrag von Oktober 2020 bis April 2021 diese unfassbare Energieleistung, fast blind, mit zwei Fingern getippt, 220 Seiten.

Ich selbst habe bei Rühle, der auch »FAZ«- und »Tagesspiegel«-Feuilletonchef war, das Blattmachen als Volontär gelernt, und immer das »Rühleische Leistungsprinzip« bewundert. Wie dieser Mann in kürzester Zeit Texte schrieb und die Ereignisse und Zusammenhänge der Welt ordnete, klärte, konturierte, er fand überall das Wesentliche. Und wenn nun die zu ordnende Welt wegfällt und nur noch das Alter übrig bleibt? »Plötzlich singt man laut ins leere Haus, in dem die Vergangenheit stillsteht.« Er stellt den Wecker und fragt sich sogleich, ob man mit 97 noch einen Wecker braucht. Das Nicht-mehr-schlafen-Können und trotzdem Müdesein. »Lebensmüdigkeit ist auch eine körperliche Wahrheit … Man wird müde in den bald grauenden Tag gehen, der selbst nichts anderes hervorbringt als den Wunsch nach einer guten Nacht.« Dabei hat er einen wunderbar leisen und friedlichen Ton mit sich selbst. Eintrag, 7. Dezember: »Man sammelt den ganzen Tag Symptome des Fortschritts ins Ende. Jetzt drück ich schon die Paste morgens neben die Zahnbürste. Ich schüttelte dann friedlich den Kopf und sage: Na ja.«

 

Moritz Rinke ist Schriftsteller und einer der führenden Dramatiker seiner Generation. Seine Theaterstücke werden national und international gespielt und erreichen ein Millionenpublikum. Sein Debütroman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« wurde zum Bestseller. Und auch sein neuester Roman »Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García« zeichnet sich durch die besondere Erzählkunst und seine hochpolitische Aktualität aus. Er ist eine Hommage an die Insel Lanzarote. Dort lebt der Protagonist des Buches – der Postbote Pedro, der wegen der Digitalisierung sehr wenig zu tun hat und nach der Trennung von seiner Frau um seinen Sohn kämpfen muss. Mehr über diesen Roman lesen Sie in der ZEIT-Rezension aus unserem im Oktober erschienen Literaturspezial.

 

Ein alter Mann wird älter

Von Günther Rühle (2021)

Günther Rühle war Theaterkritiker, »FAZ«-Feuilletonchef und Theaterintendant. Seine großen Dokumentationen des Theaters in Deutschland wurden grundlegend für Erforschung und Nacherleben der Kultur jener Zeit. Vom fortschreitenden Verlust des Augenlichts gezeichnet, beginnt Günther Rühle im Alter von 96 Jahren Tagebuch zu führen. Die Eintragungen fangen im September 2020 an und enden im April 2021. Rühle bekennt in seinen Tagebüchern, dass er in gut siebzig Jahren publizistischer Arbeit und nach »zigtausenden hingetippten Sätzen von mindestens 900 Kilometern Länge« versäumt habe, über sich selbst nachzudenken. Im Selbstgespräch ist er »am Rand des Lebens« sich selbst der Stoff und beginnt, ins »Blinde« zu schreiben, denn lesen kann er das Geschriebene nicht mehr. In der ZEIT aus der vergangenen Woche (45/21) finden Sie eine Rezension des Buches.

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