Der Schriftsteller Peter Stamm über den Roman »Sturz in die Sonne« von Charles Ferdinand Ramuz:

»Ramuz zeigt, was Literatur kann oder zumindest vor hundert Jahren konnte.«

 

Ich habe eben »Sturz in die Sonne« das französisch­schweizerischen Schrift­stellers Charles Ferdinand Ramuz (1878–1947) gelesen. Das Buch erschien vor 101 Jahren auf Französisch, aber wurde damals kaum beachtet. Erst jetzt wurde es ins Deutsche übersetzt, vielleicht weil das Thema gerade aktuell erscheint. Durch einen »Unfall im Gravitations­system« stürzt die Erde auf die Sonne zu und heizt sich dabei immer mehr auf. Diese Erklärung ist dem Autor genau einen Satz wert, der Rest des Buches befasst sich mit den Reaktionen der Menschen auf diese Apokalypse, erst dem Verleugnen der Katastrophe, dann den Aus­schweifungen, dem Aufgeben und dem Tod, oder dem vergeblichen Kampf ums Überleben, der in brutale Selbst­justiz mündet.
Spektakulär an dem Buch ist aber weniger sein Inhalt als seine Sprache, die wechselnden Stile in denen erzählt wird, die fragmentarische Struktur und Sprache. Manche der kurzen Kapitel wirken wie mündliche Berichte, andere enthalten lyrische Natur­beschreibungen, wieder andere haben eine fast biblische Sprache. Es gibt außer der steigenden Temperatur keinen erkennbaren Erzählstrang, keine Haupt­figuren, keine Urteile oder Botschaften, alles löst sich auf in einem rauschhaften Gefühl der Bedrohung und des Untergangs. »Sturz in die Sonne« ist viel mehr als ein Klimaroman, als den ihn der Verlag anpreist. Gerade in unserer Zeit, wo so viel konventionelle Literatur geschrieben wird, so viele Autorinnnen und Autoren sich damit begnügen, ihre Lebens­geschichte nachzuerzählen, hat mich dieses wagemutige Buch begeistert wie schon lange kein anderes mehr. Ramuz zeigt, was Literatur kann oder zumindest vor hundert Jahren konnte. Und der junge Übersetzer Steven Wyss schafft es, das Disparate und Bruchstückhafte, das Mündliche des Textes auch in der deutschen Ausgabe nachfühlbar zu machen.

Peter Stamm ist Schrift­steller und Journalist. Nach seinem Debütroman »Agnes«folgten Titel wie »Ungefähre Landschaft« und »An einem Tag wie diesem«.Sein neuester Roman heißt »In einer dunkelblauen Stunde«. Er handelt von einem Schweizer Schrift­steller, der von einer Filme­macherin bei der Entstehung seines Romans begleitet werden soll. Nicht zufällig erschien der Roman, der auch als Selbst­porträt gelesen werden kann, an Stamms 60. Geburtstag. Die ZEIT-Autorin Susanne Schmetkamp traf Peter Stamm vor einigen Jahren auf einen Spaziergang durch seine Heimat­stadt Winterthur. Herausgekommen ist ein sehr lesens­werter Text über das Arbeiten, die Liebe und die Kunst →

 

Sturz in die Sonne

von C. F. Ramuz (2023)

Wegen eines Unfalls im Gravitationssystem stürzt die Erde in die Sonne und es wird immer heißer. Die Menschen am Ufer des Genfersees wollen das erst nicht glauben und erfreuen sich am schönen Wetter. Aber dann wird klar, dass es vor der Hitze kein Entkommen gibt, und die soziale Ordnung beginnt zu zerfallen.
Charles Ferdinand Ramuz war ein Schweizer Schriftsteller, Lyriker, Essayist und Nationaldichter und gilt als bedeutendster Vertreter der Schweizer Literatur in französischer Sprache. 1922, als der Roman erstmals erschien, wusste C.  F. Ramuz noch nichts von der Bedrohung der globalen Erwärmung. Steven Wyss übersetzte den Roman in einer kürzlich erschienenen Neuauflage. Eine ZEIT-Rezension des Schriftstellers und Literaturwissenschaftler Caspar Battegay finden Sie hier →

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