Staatsministerin Prof. Monika Grütters empfiehlt »Giovannis Zimmer« von James Baldwin:

»Dieses Buch ist aktuell, wann und wo immer Menschen ihres Andersseins wegen ausgegrenzt werden und fürchten, im Korsett gesellschaftlicher Normen und Rollenerwartungen zu ersticken.«

 

»Giovannis Zimmer« von James Baldwin, ein beinahe vergessener Klassiker aus dem Jahr 1956 in der 2020 erschienenen Neuübersetzung von Miriam Mandelkow. Diese tragische Geschichte einer gescheiterten Liebe – dramaturgisch fesselnd erzählt als Lebensbeichte eines jungen Amerikaners, der sich mitschuldig fühlt am bevorstehenden Tod seines Ex-Geliebten – entwickelt durch die schonungslose Ausleuchtung des Verdunkelten und Verdrängten in der eigenen Seele wie auch in der Gesellschaft enorme emotionale Wucht. David, der Ich-Erzähler, leidet an seiner inneren Zerrissenheit zwischen der Sehnsucht nach einem konventionellen Leben mit Frau und Kindern und seinem homosexuellen Begehren, das er nicht länger leugnen kann, als er sich in Giovanni, einen Barmann, verliebt. In Giovannis schäbigem Zimmer ist Raum für eine Liebe, die in der Gesellschaft keinen Platz hat und der David aus Angst, Scham und Selbstverachtung keinen Raum in seinem Leben geben will. Als seine Verlobte Hella von einer langen Reise zurückkehrt, verlässt er Giovanni, leugnet seine Liebe, seine Sexualität und seine Identität – und stürzt so sich selbst, Hella und Giovanni ins Unglück.

Was macht das Buch für Sie gerade jetzt aktuell?
Dieses Buch ist aktuell, wann und wo immer Menschen ihres Andersseins wegen ausgegrenzt werden und fürchten, im Korsett gesellschaftlicher Normen und Rollenerwartungen zu ersticken.

Wem würden Sie es eher nicht empfehlen?
All jenen, die der Auffassung sind, dass über Menschen einer bestimmten Hautfarbe oder Herkunft nur schreiben darf, wer selbst diese Hautfarbe oder Herkunft hat; all jenen, die schriftstellerische Einfühlung in eine fremde Haut deshalb als übergriffigen Akt der Aneignung verurteilen. Denn hier schreibt ein homosexueller, schwarzer Autor die Geschichte einer gescheiterten Liebe zwischen zwei weißen Männern und macht seinen Ich-Erzähler David dabei zum Repräsentanten des bigotten, weißen Amerikas – in den 1950ern ein doppelter Tabubruch. Baldwins Verlag lehnte das Manuskript ab, seine Agentin riet gar, es zu verbrennen. Trotzdem ist daraus Baldwins berühmtester Roman geworden: weil große Literatur eben viel mehr ist als die Stimme einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, weil sie über die Lebenswirklichkeit einzelner Gruppen hinaus das Menschliche sichtbar macht – in »Giovannis Zimmer« die Angst vor einer Liebe, die mit gesellschaftlichen Konventionen bricht.

Und was lesen Sie sonst so?
Zu meinen literarischen Lebensbegleitern zählen Jean Paul und Joseph Roth: Beide sind geniale Sprachschöpfer. An ihrer Wortmächtigkeit kann ich mich regelrecht berauschen. Lustkäufe aus meiner Kiezbuchhandlung sind gute Gesellschaft für verregnete Sonntage; zuletzt war das »Rose Royal« von Nicolas Mathieu. Und ich liebe Lyrik: von Rainer Maria Rilke über Nelly Sachs bis zu Marie Luise Kaschnitz und Jan Wagner. Die schönsten Gedichte schreibe ich mit der Hand ab, auf Zettel, die dann auf dem Schreibtisch liegen – als kleine literarische Kostbarkeiten im Alltag.

Monika Grütters ist seit 2013 Kulturstaatsministerin. In dieser Funktion hat sie während der Corona-Krise alle Hände voll zu tun. Anfang Juni kündigte sie das Konjunkturpaket »Neustart Kultur« an. Diese bereitgestellte eine Milliarde Euro reicht aber nicht. Grütters will deshalb im Haushaltsausschuss vorstellig werden und eine Aufstockung fordern. Wenn Sie mehr über die Frau erfahren wollen, die versucht die Kulturbranche durch diese Krise zu führen, lesen Sie hier noch einmal das Interview mit der Staatsministerin von meinen Kollegen Mariam Lau und Martin Spiewak im vergangenen Herbst.

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