ZEIT-Geschäftsführer Rainer Esser über »Dresden – Roman einer Familie« von Michael Göring:

»Der Roman ist ein Erlebnis, das Freude beim Lesen macht und den Leser nachdenklich zurücklässt und nachhaltig berührt.«

Gute Romane ziehen den Leser schnell in die Geschichte hinein, und er oder sie liest das Buch bis zum Ende in einem »Flow«. Große Romane beeindrucken nachhaltig und schenken uns für die Dauer des Lesens fast ein zweites Leben. Bei Michael Görings »Dresden – Roman einer Familie« erlebt man die Geschichte der Wiedervereinigung in mehreren Facetten. An der Wärme, am Gefühl der Zusammengehörigkeit, aber auch der Gleichheit und Solidarität unter der »Knute« des Regimes und der Mangelwirtschaft einerseits und andererseits am Gefühl des Zwangs, der Unterdrückung und der Sehnsucht nach Freiheit. All das lässt Michael Göring den Leser bildhaft durchleben. Dieses Buch bietet damit deutlich mehr Erkenntnis als andere Romane über die DDR, die eher satirisch oder aus einer engen Perspektive oder vom hohen Ross herunter über den untergegangenen Staat schreiben. Der Roman von Michael Göring ist auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall sehr aktuell. Die feine Beobachtung der Geschichte der Familie Gersberger in Dresden und ihrer beiden Westbesucher über die Jahre mit echter Freundschaft, mit Nacktbaden, Zelten, Republikflucht und Ausreise gibt ein treffliches Bild über Sorgen und Freuden der Menschen in Ostdeutschland, die auch heute noch in der dortigen Mentalität stark nachwirken. Der Leser sitzt mit am Tisch der Gersbergers, wenn der Merlot aus Italien genossen wird und anderentags der Rotwein aus Bulgarien oder der Nordhäuser Schnaps aus heimischer Produktion zum Einsatz kommt. Der ist auch okay, aber kann mit dem Merlot halt nicht mithalten. Man spürt den unbändigen Wunsch der »Eingesperrten«, in die große, weite Welt zu reisen, auch wenn das Wandern im Erzgebirge stimmungsvoll und schön ist wie auch die Reise in die Hohe Tatra oder in das FDGB-Ferienheim auf Usedom. Bei der Republikflucht von Sohn Kai, seinen Erzählungen von den Verhören und aus dem Zuchthaus ebbt eine möglicherweise kurz aufkommende Ostromantik jäh wieder ab. Der Leser spürt die Hilflosigkeit, mit der die DDR ihre Bürger in der Prager Botschaft in ihrem Drang in den Westen und nach Mallorca nicht mehr halten kann. Und dennoch ahnt man, dass diese Dresdner in ihrer direkten, natürlichen Art und Freundlichkeit kleine und große Probleme haben werden, wenn die neue Freiheit kommt und ihre bisherige Welt mit ihren Mängeln, aber auch mit ihrer Sicherheit, Gleichheit und Solidarität untergeht. Michael Görings fünfter Roman ist ein Erlebnis, das Freude beim Lesen macht und den Leser nachdenklich zurücklässt und nachhaltig berührt.

Rainer Esser ist der Geschäftsführer des ZEIT-Verlags und das seit über 20 Jahren. Nach einer Banklehre absolvierte er ein Jurastudium und eine Redakteursausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Anschließend arbeitete er als Anwalt und promovierte. Dass er mit Zahlen jonglieren kann, immer gute Argumente hat und diese sehr überzeugend vortragen kann, liegt also auf der Hand, aber dass Rainer in seiner Freizeit auch noch Zeit hat, Romane zu lesen, hat uns überrascht.

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