Die Schriftstellerin Sibylle Berg über den Essay »Der kommende Aufstand« von dem Unsichtbaren Komitee:
»Das Buch ist so aktuell, dass es fast tragisch ist.«
Als ich vor vielleicht fünf Jahren – Corona-Jahre sind ja wie Hundejahre, sie bedeuten etwas anderes – begann, für »GRM. Brainfuck« zu recherchieren, stieß ich auf das Buch »Der kommende Aufstand« des Unsichtbaren Komitees. Auf wenig über hundert Seiten schrieb ein anonymes Kollektiv französischer Linker 2009 diese Anklage an das ökonomische System, das wir alle für alternativlos halten. In dieser Klarheit und Unerbittlichkeit hatte ich noch keinen Erklärungsversuch der Dauerkrise, in der wir uns aufhalten, gelesen. Das Buch ist so aktuell, dass es fast tragisch ist.
»Die Umwelt hat … erzählte man uns, dieses unvergleichliche Verdienst, das erste globale Problem zu sein … das heißt, ein Problem dessen Lösung allein diejenigen besitzen können, die global organisiert sind, und die kennen wir. Das sind die Gruppen, die seit fast einem Jahrhundert die Avantgarde des Desasters sind und beabsichtigen, es zu bleiben.«
Oder »Jeder Einzelne hat die Aufgabe, sein Verhalten zu ändern … man muss wenig konsumieren, um noch konsumieren zu können …« Das Buch besteht fast ausnahmslos aus Sätzen, die man im Zuge der heutigen Debatte um die Weltrettung alle einrahmen möchte. Es hat mich radikalisiert in der Art, dass ich für mein neues Buch »RCE« nach den Verursachern der Misere, in der wir leben, zu forschen begann.
Die Bände des unsichtbaren Kollektivs führten mich zu den Ursachen von vielem, was Mehrheiten glauben, gelehrt und erzählt bekommen, und was sich nach dem Buch Edward Bernays, »Propaganda«, in nichts auflöste. Bernays berichtet von seiner Erfindung der modernen Manipulation, auch PR genannt. Er erschuf unter anderem die Erzählung des Amerikanischen Traums, der Gesundheit von Frühstücksspeck und der Wohltat des Rauchens. Das Buch mit dem Untertitel – »Die Kunst der Public Relations« leitete mich dann zu Ulrike Herrmans »Deutschland ein Wirtschaftsmärchen«. In ihm wird von der Erfindung des Nullbegriffs »soziale Marktwirtschaft« bis zu der Basis des Finanzsystems das beste aller Systeme dekonstruiert.
Diese Bücher waren für mich, mit vielen anderen, zu denen sie führten, die Basis, um die Ursachen der gefühlten tausend globalen Brandherde zu benennen.
Das ändert nicht viel, hilft aber ein wenig aus der Ohnmacht und der Erstarrung, mit der ich auf die Zeit blicke, in der wir uns befinden.
Sie sollten es versuchen. Verstehen und Wissen sind im Zweifel immer besser, um unempfänglich für falsche Schuldzuweisungen und Panik zu sein.
Sibylle Berg wurde in Weimar geboren und studierte in Hamburg. Sie hat zahlreiche Theaterstücke und Romane geschrieben und gehört zu den wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Vergangene Woche nannte unser Feuilletonchef Volker Weidermann »GRM. Brainfuck« einen großen Gesellschaftsroman, der »viel aggressiver, lustiger, auch analytischer als ›Unterleuten‹« von Juli Zeh sei. Und weiter: »Dass man sich in der Finanzwelt auskennen muss, um die Welt zu analysieren und schreibend zu verändern, ist Voraussetzung ihres Schreibens.« Besonders lesenswert auch der Politische Fragebogen, den Sibylle Berg im Gespräch mit ZEIT-Redakteurin Anna Mayr in der ZEIT Ende 2019 beantwortete. Nach der Verrücktheit der Welt gefragt, sagte Berg damals: »Die Welt ist immer ein verrückter Ort. Menschen sind so leicht zu manipulieren, so schutzlos, schrecklich und liebenswert zugleich. Mich wundert, dass sie nicht viel öfter durchdrehen.«