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ZEIT-Redakteurin Stefanie Flamm über den Bildungsroman »Der Hals der Giraffe« von Judith Schalansky:

»Aber nichts an diesem Buch ist trist. Es schillert, es schimmert, es zieht einen immer tiefer hinein in dieses von außen betrachtet sicher düstere Soziotop, das man durch die Brille einer alternden Biologielehrerin betrachtet.«

Schalansky kauft man nicht im Paperback, also andere Leute machen das jedenfalls nicht. Andere Leute freuen sich an dem Einband aus grobem Leinen, nach dem die Autorin, die ihre Bücher grundsätzlich selber gestaltet, so lange gesucht hat. An den filigranen Zeichnungen aus alten Biologie-Büchern, die den Text immer wieder unterbrechen, der perfekten Typografie. Ich habe, was die Autorin mir hoffentlich verzeihen wird, keine Antennen für Bibliophilie. Meine Bücher sind Gebrauchsgegenstände. Ich habe sie immer dabei. Ich bin zwar inzwischen zu alt, um Lieblingsstellen mit dem Bleistift zu markieren, aber wenn ich etwas lese, das ich gerne wiederfinden möchte, knicke ich die Ecken der entsprechenden Seiten um. »Der Hals der Giraffe« hat viele Eselsohren. Obwohl ich dieses Buch zur Vorbereitung auf ein Interview eher hastig gelesen habe, bekomme ich es seit Wochen nicht aus dem Kopf. Dieser verdrehte »Bildungsroman« spielt in einer sterbenden Stadt irgendwo an der Ostsee, an einer Schule, die in Ermangelung von Schülern kurz vor der Schließung steht. Aber nichts an diesem Buch ist trist. Es schillert, es schimmert, es zieht einen immer tiefer hinein in dieses von außen betrachtet sicher düstere Soziotop, das man durch die Brille einer alternden Biologielehrerin betrachtet.

Seitdem der Sozialismus passé ist, flüchtet sich diese Frau Lohmark in einen radikalen Darwinismus. Früher war vielleicht nicht alles besser, aber früher war zumindest mehr Auslese, mehr Wettbewerb, zumindest in der Schule, mehr Konkurrenz, weniger Fühlen, mehr Funktionieren und grundsätzlich weniger Fragen. Wie immer bei Schalansky geht es um alles: um den Kapitalismus, das Artensterben, den Menschen und sein Rolle auf diesem Planeten, dieses intelligente Tier mit dem viel zu großen Gehirn, das ständig Sinnfragen stellen muss, obwohl es darauf keine Antwort findet. »Höher, schneller, weiter. Der Hals der Giraffe. Das Wasser bis zum Hals. Die Kirschen auf den oberen Ästen, die Gletscher Grönlands. Sie brauchen uns nicht.«

Man legt dieses Buch zur Seite und wird das Gefühl nicht los: So wie Frau Lohmark kann man es auch sehen. Aber das kann man dann doch nicht, weil man doch noch immer zu jung ist, um sich nach einer Ideologie zu sehnen, die einem das Denken abnimmt. Und nicht zynisch genug, um zu denken, dass man der Welt wirklich egal ist.

Stefanie Flamm ist Redakteurin im Entdecken-Ressort der ZEIT. Dort schreibt sie über Frauenthemen, Reisen und vor allem übers Gärtnern. Seit etwa einem Jahr nimmt sie uns regelmäßig mit ins Beet. Die Devise: »Alles dauert ewig, und die Hälfte misslingt. Trotzdem gibt es nichts Schöneres als Gärtnern.« Ihre launige Kolumne »Auf dem Boden der Tatsachen« handelt vom Frühblühergesetz, Helikoptergärtnern, Borretsch und anderen Garten-Phänomenen. Um am Ende gibt’s meist noch handfeste Tipps.

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