Ulrich Matthes empfiehlt den Essay »Wagnisse« der belgischen Lyrikerin Charlotte Van den Broeck:
»Sobald die Gefahr droht, sich in Details zu verlieren, begegnet sie ihr, indem sie eine Assoziation aus ihrem Leben in den Text schmuggelt, und so entsteht eine Melange aus Architektur-Beschreibung und persönlichstem Blick auf das Leben.«
Während der Corona-Zeit habe ich in meinem Leben zwei Gewohnheiten verändert. Ich bin zu einem undogmatischen Vegetarier geworden, und ich habe viel mehr Sachbücher gelesen als früher. Vielleicht, um der Unsicherheit der Welt und meiner Seele Fakten entgegenhalten zu können. Ein Buch hat mich im vorigen Jahr in mehrfacher Hinsicht wirklich begeistert. Es gilt als Sachbuch, aber es ist viel mehr. Es ist ebenso persönlich wie poetisch geschrieben. Das ist das Berückende: Man erfährt etwas über die Welt, in diesem Fall vor allem über Architektur, und teilt gleichzeitig einen wunderbaren Blick der Autorin auf die Welt und die Menschen, die in ihr leben.
Also, ich empfehle: »Wagnisse«, von einer belgischen Lyrikerin geschrieben, sie ist noch ganz jung, 30: Charlotte Van den Broeck. Es ist 2021 bei Rowohlt erschienen, der Untertitel lautet: »Dreizehn tragische Bauwerke und ihre Schöpfer«. Diese Lyrikerin schreibt wunderbar humorvoll über das Scheitern. Und sie tut das auf eine Weise, die einen immer wieder zum Gluckern bringt. Auch über das tragische Scheitern, etliche Architekten, über die hier zu lesen ist, haben sich das Leben genommen. Wir erfahren von einem Schwimmbad, das im Morast versinkt. Von der Wiener Staatsoper, die zunächst zum großen Kummer der beiden Architekten von allen verrissen wurde. Von einer Kirche in Frankreich, deren Turm sich verdrehte. Skurril-komische Tatsachen über die Gebäude und die Verzweiflung ihrer Schöpfer, die sich eingestehen mussten, dass man in dieser Schwimmhalle nicht schwimmen oder dass dieser Turm niemals bestiegen werden kann. Diese Belgierin beschreibt sowohl den Prozess als auch die Tatsache des Scheiterns und versucht, diesem Scheitern etwas von der Vitalität, dem vorsichtigen Optimismus und dem eigenen Erleben entgegenzusetzen. Sie schreibt über das Scheitern als jemand, der sich selbst im Scheitern wiedererkennt und dem mit einer Mischung aus Rührung und Amüsement eine vitale Gegenkraft hinpfeffert. Das liebe ich grundsätzlich bei Büchern: Wenn sie mich anrühren und zum Kichern bringen.
Der erste Text in »Wagnisse« handelt von einem Schwimmbad in Turnhout, dem Ort, in dem Charlotte Van den Broeck geboren und aufgewachsen ist. In diesem Schwimmbad hat sie zum ersten Mal geknutscht, es ist also auch eine Art Mémoire ihrerLiebeserlebnisse. Sie begegnet bei ihrer Recherche auf der Suche nach den gescheiterten Architekten auch Menschen, die ihr Leben diesen gescheiterten Objekten gewidmet haben, wie einer Französin, die soeben die Führung einer Vereinigung zur Anerkennung der verdrehten Kirchtürme übernommen hat. Irre, die gibt es tatsächlich!
Van den Broecks Blick ist unglaublich empathisch und trotzdem auch kritisch, und sie schreibt ausgesprochen poetisch, sie ist halt Lyrikerin. Aber daraus entsteht keineswegs ein skrupulöser Stil, sondern einfach ein ausgefeilter, super lesbarer Text. Sobald die Gefahr droht, sich in Details zu verlieren, begegnet sie ihr, indem sie eine Assoziation aus ihrem Leben in den Text schmuggelt, und so entsteht eine Melange aus Architektur-Beschreibung und persönlichstem Blick auf das Leben. Ich möchte nicht versäumen, die Leistung der Übersetzerin zu rühmen: Christiane Burkhardt hat Van den Broeck aus dem Niederländischen übertragen, und das hat sie für mein Ohr toll gemacht.
Wem würde ich »Wagnisse« nicht empfehlen? Also, für FDP-Wähler und -Wählerinnen ist es nicht geeignet. Weil es ja vom Scheitern handelt! Das war ein Witz, aber nur ein halber.
Im Moment lese ich gerade von Helga Schubert »Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten« – aber das lesen jetzt ja alle. Während der Corona-Monate habe ich deutlich weniger gelesen als sonst. Ich hatte ganz einfach das Gefühl, durch Corona Leben zu verpassen, und dieses Gefühl verstärkte sich noch, wenn ich las. Sonst ist das Alleinsein mit einem Buch sehr schön. Während der Corona-Monate wurde dieses Alleinsein manchmal unerträglich.
Wenn der Name Ulrich Matthes fällt, denken viele gleich an seine Rolle als Joseph Goebbels in dem Film »Der Untergang« an der Seite von Bruno Ganz. Seit vielen Jahren gehört der Berliner zum Ensemble des Deutschen Theaters. Dort ist der vielfach ausgezeichnete Schauspieler zurzeit in der Rolle des Willy Loman in Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden« zu sehen. Aber ebenso brillierte er kürzlich in der Fernsehserie »Das Boot« und in dem Filmdrama »Gott« von Ferdinand von Schirach. Seit 2019 ist Matthes Präsident der Deutschen Filmakademie, und sehr artikuliert hat er kürzlich die Aktion »Alles dichtmachen« von einigen Kollegen der Film- und Medienbranche kommentiert.