ZEIT-Redakteur Urs Willmann über den Kriminalroman »Maigret und der Treidler der Providence« von Georges Simenon:
»Weil fast alle Romane Simenons aus der Zeit gefallen sind, werden sie in der schnelllebigen Ära Netflix zu einem Ort, an dem ich wunderbar ausklinken und versinken kann – in Behäbigkeit und Melancholie.«
In Dutzenden von Georges Simenons Büchern taucht sie auf, diese unverwechselbare Stimmung. Zu ihr gehören Schiffe und Kanäle, Häfen und Arbeiter, Nebel und Nieselregen, Spelunken und alkoholische Getränke. Letztere werden vom ermittelnden Kommissar Maigret und von den weiteren Akteuren oft schon zu vormittäglicher Stunde konsumiert. Ich liebe es, den Kommissar auf seiner Verbrechersuche in diesem Ambiente zu begleiten; in »Maigret und der Treidler der Providence« verdunkelt es sich besonders meisterhaft. Nachdem im Stall einer Binnenschifferkneipe eine Tote gefunden wird, ermittelt der Gesetzeshüter 180 Seiten lang auf dreckigen Kähnen und in der dreckigen Umgebung des Marne-Kanals den düsteren und windigen, mitunter aber auch herzlichen Gestalten hinterher, die entlang der Wasserstraßen in Frankreichs Norden auf unterschiedlichste Weise einen Lebensunterhalt zusammenkratzen. Währenddessen riecht es permanent nach Dieselöl. Freunde von mir sind Simenon genauso verfallen. Wenn wir uns treffen, schwelgen wir. Wir lassen weitere Meisterwerke Revue passieren und genießen das Feuerwerk an schönsten Grautönen: »Maigrets Nacht an der Kreuzung«, »Maigret und sein Toter«, »Mein Freund Maigret«, »Maigret bei den Flamen«, »Der Clochard«. Dazu trinken wir. Weil fast alle Romane Simenons aus der Zeit gefallen sind, werden sie in der schnelllebigen Ära Netflix zu einem Ort, an dem ich wunderbar ausklinken und versinken kann – in Behäbigkeit und Melancholie. Es kommt vor, dass der Kommissar am Ende nicht einmal jemanden verhaftet. Dennoch habe ich stets das Gefühl: Es ist gut so. Der Zürcher Kampa Verlag hat es sich zur ehrgeizigen Aufgabe gemacht, den ganzen Simenon neu aufzulegen – alle Maigret-Geschichten plus alle großen Romane ohne Maigret. Das sind mehr als zweihundert Werke – eine wahre Fundgrube, die ich mir nach und nach aneigne. Aus ihr habe ich längst die Erkenntnis geschürft, dass dieser Schriftsteller viel mehr ist als »bloß ein Krimiautor«. Diese knappen, dennoch präzisen, durchaus gestrigen Milieuschilderungen mögen unzeitgemäß sein. Mit zeitökonomischen Maßstäben betrachtet: unnütze Lektüre, anders als die Aktualitäten und Sachbücher, die ich sonst lese, lesen muss. Aber wenn ich die Geduld für einen Simenon aufbringe, belohne ich mich damit immer. Lesen als Urlaub, im Bett, im Zug, auf dem Balkon. Ich sauge die Stimmungen auf, sie verschwinden nicht mehr aus dem Kopf, die Hektik der Gegenwart kann ihnen nichts anhaben.
Urs Willmann ist Wissenschaftsredakteur bei der ZEIT. Dort schreibt er meist über Archäologie, Berge, Sport und Bier. Diese Fachgebiete und seine Schweizer Geselligkeit machen ihn zu einem unserer Lieblingskollegen. Wenn der Platz in der Zeitung nicht reicht, schreibt Urs auch Bücher. Zuletzt ist »Bier. Das Buch« erschienen, darin nimmt er uns mit auf eine weite Reise in die Welt des Biers. Und spätestens im Wikibier sollte dann keine Frage unbeantwortet bleiben – von A wie alkoholfrei über I wie IPA bis hin zu Z wie Zwickel.