
Die Schriftstellerin Charlotte Link über die Biografie von Judith Kerr, geschrieben von Astrid van Nahl:
»Das Buch zieht in seinen Bann«
Ich bin eine leidenschaftliche Leserin von Biografien. Das Leben berühmter Künstler, Politiker, Wissenschaftler – es fasziniert mich, mehr von den Menschen zu erfahren, die mich interessieren und von denen ich ein bestimmtes Bild habe. Das sich dann entweder verfestigt oder völlig revidiert. Manchmal, in Teilen, beides.
Zuletzt las ich die von Astrid van Nahl hervorragend geschriebene Biografie der Autorin und Illustratorin Judith Kerr. Judith Kerrs berühmtes Buch »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl«, in dem sie ihre Flucht als Kind vor den Nazis erzählt, kennt sicher fast jeder. Es gewann 1974 den deutschen Jugendbuchpreis und gehörte damals zu meinen Lieblingsbüchern. Ich lebte und litt mit Anna, die mit ihren Eltern und ihrem Bruder von Berlin aus zunächst in die Schweiz, dann nach Frankreich, schließlich nach England floh. Anna war im Buch das Alter Ego Judith Kerrs, der Tochter des berühmten jüdischen Theaterkritikers Alfred Kerr.
Diese Geschichte einer Flucht, darüber hinaus das gesamte Leben der Judith Kerr, die in England dauerhaft eine neue Heimat fand, wird in dieser Biografie noch einmal deutlicher. Dramatisch und erschütternd, weil auch die Geschehnisse zur Sprache kommen, von denen die kleine Anna nichts wusste, da die Eltern sich bemühten, ihre Ängste so gut es eben ging vor den Kindern geheim zu halten – und weil Anna/Judith als Kind in vielem auch das Abenteuer sah, nicht nur den Schrecken. Im vorliegenden Buch wird der Leser mit der ganzen Verzweiflung, dem tagtäglichen Elend einer Flucht konfrontiert. Wir erfahren von der gnadenlosen materiellen Not der Kerrs, davon, wie Judiths Mutter Julia in schlecht bezahlten Jobs als Sekretärin das Geld verdient, wir lernen die ständigen Sorgen kennen und die schmuddeligen Unterkünfte. Die Tragik des großen Alfred Kerr, der, besonders in England, dessen beraubt ist, was sein Leben, was ihn ausmacht: seiner Sprache, seiner Fähigkeit, sich nuanciert auszudrücken – und damit für seine Familie zu sorgen. Entwurzelung und Heimatlosigkeit: Selbstmordgedanken sind bei Judith Kerrs Eltern zeitenweise an der Tagesordnung.
Das Buch zieht in seinen Bann. Es erschreckt und wühlt auf und stimmt zutiefst nachdenklich, denn wann war es aktueller als jetzt, da Flucht wieder das Leben so vieler Menschen überall auf der Welt und mitten in Europa bestimmt?
Ihren Erstling »Die schöne Helena« verfasste sie als Sechzehnjährige. Längst zählt Charlotte Link zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autorinnen. Ihr Verlag meldet, allein in Deutschland seien bislang über 32 Millionen Bücher von ihr verkauft worden. Als ihr Markenzeichen gelten vielschichtige Kriminalromane, »klug konstruierte Pageturner«, also Bücher, die man nicht aus der Hand legen kann, bis zur letzten Seite. Die Verfilmungen ihrer Krimis für die ARD erreichen regelmäßig hohe Zuschauerzahlen; zuletzt schaffte es »Die Suche« in die top drei der Online-Abrufe 2021. Ihre jüngster Erfolg: »Ohne Schuld«, der dritte Teil der Kate-Linville-Reihe. Sie engagiert sich für den Tierschutz und mit der Organisation DKMS life gegen den Krebs. Am 19. Mai um 20 Uhr gibt die 58-Jährige im digitalen Live-Format »Crime live« Auskunft über ihre Arbeit und darüber, was ihr Erfolg bedeutet.