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Anne Bohnenkamp empfiehlt »Nevermore« von Cécile Wajsbrot, in der Übersetzung von Anne Weber:

»Wir hören und sehen der Autorin und ihrer Übersetzerin zu beim Prozess des Übersetzens, folgen ihren Assoziationen und ihren Wegen durch Dresden und erleben, wie der zu übersetzende Text durchsichtig wird auf verwandte Erfahrungen anderer Orte, Zeiten, Texte.«

 

Mit wachsender Faszination habe ich gerade Cécile Wajsbrots »Nevermore« gelesen. Seit langer Zeit wieder ein Buch, das ich gar nicht aus der Hand legen mochte. In dieser Geschichte über eine französische Übersetzerin, die vorübergehend in Dresden lebt, um dort einen englischen Roman in ihre Sprache zu übersetzen, geht es um große Themen: um das Vergehen von Zeit, um Erinnerung und Vergänglichkeit, um Verlust und Inspiration, um Trauer und Glück. Und es gelingt der Autorin, das Entstehen eines sprachlichen Kunstwerks zum zentralen Ereignis des Textes zu machen.
Bei meiner Lektüre spielte eine maßgebliche Rolle, dass ich den Roman in der Übersetzung von Anne Weber gelesen habe. Es macht immer einen Unterschied, ob man ein Buch im Original oder in einer Übersetzung liest – in diesem Fall ist es essenziell. Denn im Mittelpunkt des Textes steht die Übertragung einer von lyrischer Sprach­dichte geprägten Passage »Time passes« aus Virginia Woolfs hochgerühmtem, 1927 erschienenem Roman »To the Lighthouse«, in der es darum geht, wie ein (wegen des Ersten Weltkriegs verlassenes) Haus an der Westküste Schottlands allmählich wieder von der Natur in Besitz genommen wird. In Anne Webers Übersetzung von Cécile Wajsbrots Spracharbeit – einem potenzierten Umkreisen des Originals in wiederholten Annäherungen, von ersten Roh­fassungen häufig über mehrere Varianten bis zu geglückten oder auch wieder verworfenen Lösungen – wird der Dialog zwischen der englischen und der französischen Autorin aus zwei Jahrhunderten gesteigert zu einem Trialog der Stimmen. Es glückt der Autorin und ihrer Übersetzerin auf erstaunliche Weise, uns an diesem Prozess teilnehmen zu lassen – denkbar präzise und wunderbar erzählerisch zugleich. Das erzeugt eine enorme Aufmerksamkeit für die Kraft und den Nuancenreichtum von Sprache(n), für die Komposition des Textes – und für das Wunder des Verstehens. Wir hören und sehen der Autorin und ihrer Übersetzerin zu beim Prozess des Übersetzens, folgen ihren Assoziationen und ihren Wegen durch Dresden und erleben, wie der zu übersetzende Text durchsichtig wird auf verwandte Erfahrungen anderer Orte, Zeiten, Texte. Lesend genießt man die mäandernden Bewegungen des Textes, den Fluss der Assoziationen, die immer deutlicher auch als Fäden in einem sehr genau kompo­nierten Ganzen erkennbar werden, ohne dass das Muster darin eindeutig lesbar würde. Und wie Edgar Allan Poes im Titel »Nevermore« zitiertes Gedicht »The Raven« enthält die Erzählung schließlich auch die Geschichte einer rätselhaft bleibenden, zwischen Erinnerung, Einbildung und Erscheinung oszillierenden Wiederbegegnung mit einer verlorenen Freundin.

Handelt es sich um ein Buch, das Ihrer Meinung nach gerade jetzt aktuell ist?
Ja – nicht zuletzt als Beförderung der Freude an Mehrsprachigkeit. Original und Übersetzung sind 2021 erschienen, die Lektüre gleicht einem Gespräch mit klugen Zeitgenossinnen von heute. Viele Assoziationen und Erfahrungen konnte ich unmittelbar teilen, wiederholt bin ich auf Spuren gestoßen, die mir auch gerade neu wichtig geworden waren (von Samuel Taylor Coleridges Gedicht »Kubla Khan« über Henry David Thoreaus »Walden« bis zu Rachel Carsons »Stummem Frühling«.
Und vor allem gelingt es »Nevermore«, die Aktualität von Virginia Woolfs »Time passes« erfahrbar zu machen – indem der bald 100-jährige Text durchsichtig wird auf »alle Katastrophen des vorigen und des Jahrhunderts, in dem wir lebten«, Tschernobyl zum Beispiel, und so unser gegenwärtiges Bewusstsein reflektiert von Gefährdung und Vergänglichkeit der Menschheit: »Wir sind nur noch Bewohner ›der Erde‹ auf Zeit.«

Was bleibt nach der Lektüre hängen? 
Manche Sätze (»Wie viel Vertrauen es braucht, um zum Beispiel ein Buch zu kaufen, es in seinen Bücherschrank zu stellen und sich zu sagen, ich behalte es für später«), vor allem aber ein intensives Glücksgefühl, dass es gelingen kann, den Weg zwischen den Sprachen, Kulturen und Zeiten so aufzuschreiben, dass sich immer wieder neue Perspektiven auftun, dass der ungeheure Reichtum spürbar wird, der in solchem »geistigen Handelsverkehr« (Goethes Beschreibung von »Weltliteratur«) steckt. Und dann auch jede Menge Anregungen: die Autorin beschreibt die High Line in New York so, dass ich mir die Fotografien von Joel Sternfeld ansehen möchte, sie machen neugierig auf das reiche Online-Archiv zu Virginia Woolf und neugierig, zum Beispiel, auf die Arbeiten des kambodschanischen Dokumentarfilmers Rithy Panh oder den »Coral de caracola« von Juan Allende-Blin, dem chilenischen Komponisten.

Und was lesen Sie sonst üblicherweise?
Immer wieder Goethe. Und Berichte, Anträge, Gutachten, Hausarbeiten … Es bleibt leider wenig Energie für Bücher, die ich gerne (wieder)lesen würde: nach »Nevermore« nun unbedingt Virginia Woolf. Aber auch: Homer, Vergil, Byron. Da die Augen abends aber müde sind, ziehe ich der Lektüre seit ein paar Jahren häufig das Hören von Podcasts vor …

Anne Bohnenkamp hat geschafft, was anfangs als chancenlos galt: Frankfurt ein neues, ein ungewöhnliches Museum zu ermöglichen. Die Literaturwissenschaftlerin ist Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts, das in Frankfurt am Main das Goethe-Haus besitzt, betreibt und lebendig hält. In normalen Zeiten besuchen jährlich 100.000 Besucher aus aller Welt das Haus am Großen Hirschgraben.
Im Herbst vergangenen Jahres hat nebenan das Deutsche Romantik-Museum eröffnet, weltweit das erste, das dieser Epoche der deutsch­sprachigen Literatur, ihrer Musik und ihrer Malerei einen Ort schenkt, der gleichermaßen die Forschung und die Neugier des Publikums bedient. Dank der einfallsreichen Aufmachung und Inszenierung seiner Schätze ist es zum Magneten geworden nicht nur für Frankfurt und die Region.
Anne Bohnenkamp lehrt außerdem Neue deutsche Literaturwissenschaft an der Frankfurter Universität.

 

Nevermore

Cécile Wajsbrot (2021)

Nach dem Tod einer befreundeten Schriftstellerin zieht sich eine Übersetzerin nach Dresden zurück, um dort an der Übertragung von Virginia Woolfs Roman »To the Lighthouse« zu arbeiten. Bei ihren nächtlichen Spaziergängen glaubt sie Ihrer verstorbenen Freundin zu begegnen und noch einmal mit ihr reden zu können. In ihrem neuesten Roman schafft Cécile Wajsbrot einen Echoraum, der von dem verfallenen Haus in Virginia Woolfs Roman über das einstmals zerstörte Dresden bis zur High Line, einer ehemaligen New Yorker Industrieruine, und zur Verbotenen Zone um Tschernobyl reicht. Übersetzt wurde Cécile Wajsbrots Roman von Anne Weber. Dass auch Cécile Wajsbrot als Übersetzerin tätig ist, spürt man durch den sprachlichen Feinsinn in »Nevermore«. Lesen Sie über Wajsbrots Schaffen auch diesen ZEIT-Artikel.

 

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