Der Pianist Kit Armstrong über den Gedichtband »stille trommeln« von Ulla Hahn:
»Eine Anleitung dafür, was uns träumen lässt und wach hält, was im Gehirn unsere Bilder und Verbindung umräumt, und nicht zuletzt, was uns mittels unseres Sprachsinns ergötzt.«
Kürzlich mit Begeisterung gelesen habe ich den Lyrikband »stille trommeln« von Ulla Hahn. Ob dieser Band jetzt besonders aktuell ist? Jedenfalls ist es keine Gebrauchsanleitung für irgendetwas, was wir gerade tun oder tun sollten. Das verstehe ich unter Aktualität. Aber es ist durchaus eine Anleitung dafür, was uns träumen lässt und wach hält, was im Gehirn unsere Bilder und Verbindungen umräumt und nicht zuletzt was uns mittels unseres Sprachsinns ergötzt. Und das hat für mich mit jeglicher Erwägung, was Aktualität betrifft, wenig zu tun. Um die Frage nach der Aktualität aus einem anderen Blickwinkel zu beantworten: Ja, das Weltbild, die Begriffe und die Persönlichkeiten, wie ich sie mir beim Lesen von »stille trommeln« vorstelle, zählen absolut zur Gegenwart. Die Verbindung zur aktuellen Gesellschaft und Welt ist also dabei Teil meiner inneren »Inszenierung«.
Ich muss erwähnen, dass es nicht meine erste Begegnung mit der Lyrik von Ulla Hahn ist. Vor einigen Jahren brachte uns die Schubertiade in Hohenems (Österreich) zusammen; ich vertonte einige Gedichte von ihr als Liederzyklus. Ich hatte dabei unbewusst das Gefühl, dass ich mich als Komponist mit ihrem lyrischen Ich identifizieren musste. Das war etwas völlig anderes als zum Beispiel bei einer Vertonung von Goethe-Lyrik – dabei schien es mir bisher immer um eine Interpretation des Gedichts zu gehen und weniger um die oben beschriebene Identifikation. (Vielleicht werde ich nach dem nächsten Liederzyklus auch sagen können, warum!)
Wem würde ich es nicht unbedingt empfehlen? Es liegt sowohl an meiner Veranlagung und auch an meiner Ausbildung, dass ich kurz mit mir ringen musste, um schließlich ein Buch zu empfehlen, das als Ziel gerade nicht die Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse hat. Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zur schönen Literatur. Ich kenne kulturliebende Menschen, die sich so sehr für fiktive, von anderen Menschen entwickelte Gedankenwelten begeistern, dass sie gar nicht mehr aus einer auf Realität gründenden Perspektive denken wollen; sie nehmen diese Gedankenwelten wahr, ohne sie an Naturkenntnissen und objektiver Realität zu überprüfen. Meiner Meinung nach kann es aber keinerlei Ersatz für jenes Wissen geben, das durch beweisbare, objektive Verfahren gewonnen wird. Man darf das Bemühen um erweitertes Denken nicht zum Anlass nehmen, diesen Grundsatz infrage zu stellen. Wenn wir sagen, dass ein System Grenzen hat, meinen wir damit ja auch, dass es innerhalb jener Grenzen tatsächlich funktioniert.
Immer wieder vertiefe ich mich in die Enzyklopädie »Naturalis Historia« des römischen Gelehrten Plinius (23/24 bis 79 n. Chr.). Es ist mir eine Freude – auch wenn es darin Passagen gibt, die man zwar irgendwie unterhaltsam, aber auch ziemlich dumm finden kann! Mitunter frage ich mich, wofür die Welt so etwas wie Kunstkritik braucht; dann lese ich Plinius’ Abhandlung über die Geschichte und Meisterwerke der Malerei und merke, wie in mir die Sehnsucht nach unerreichbaren ästhetischen Erlebnissen wach wird. Vor hundert Jahren ist Camille Saint-Saëns gestorben. Aus diesem Anlass habe ich neulich einige seiner Schriften gelesen. Neben seinen Musikbetrachtungen, denen ich besonders aufgeschlossen gegenüberstehe, möchte ich seine 1922 erschienene Sammlung »Divagations sérieuses« (1894 unter dem Titel »Problèmes et mystères« publiziert) hervorheben. Mich bewegt und erfreut zutiefst, wie ein »Musikerkollege«, dessen Werk ich so besonders verehre, sich für die gesellschaftliche Wertschätzung von Wissenschaft einsetzte.
Das Talent des Ausnahmepianisten Kit Armstrong bezieht sich mitnichten ausschließlich auf die Musik. Kürzlich hat er innerhalb weniger Wochen Deutsch gelernt, und seine Lektüre-Empfehlung beweist, wie differenziert er sich mittlerweile schon darin ausdrücken kann. Mit acht Jahren spielte er das erste Mal mit Orchester vor Publikum. Im Juli erscheint eine neue Doppel-CD von ihm, den »Visionären der Tastenmusik« William Byrd und John Bull gewidmet. Nebenbei schloss Armstrong an der Pariser Sorbonne das Studium der Mathematik ab, zuvor hatte er in den USA Komposition und Physik studiert. Vor neun Jahren erwarb er eine Kirche in der französischen Provinz. Dort, in Sainte-Thérèse-de-l’Enfant Jésus veranstaltet die gemeinnützige Stiftung Les Amis de Kit Armstrong in den Sommermonaten Konzerte. Als wir den 29 Jahre alten Amerikaner um eine Empfehlung für den Newsletter baten, arbeitete er gerade in Taiwan. Als er sie schickte, schrieb er aus Frankreich, »aus meiner Kirche«.
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