Leserparlament | Frankfurt am | 6. Juni 2019

Das ZEIT-Leserparlament mit Giovanni di Lorenzo

Was hat die ZEIT-Redaktion als nächstes vor? Welche Themen kamen in der Berichterstattung zu kurz? Und was treibt die Leserinnen und Leser gerade um? Bisher fand das ZEIT-Leserparlament zu Fragen wie diesen zwei Mal in Hamburg statt. Beide Male mit über 2.000 Leserinnen und Lesern, die die Journalisten ihrer Zeitung kennenlernen wollten. Auf Wunsch vieler Nicht-Hamburger sind wir nun mit dem ZEIT-Chefredakteur und einigen Reporterinnen und Reportern auf Deutschlandtour: Der Auftakt 2019 fand am 6. Juni im English Theatre in Frankfurt statt. Giovanni di Lorenzo stand den Leserinnen und Lesern zwei Stunden Rede und Antwort. Rund 40 Rechercheanregungen gab das Publikum dem ZEIT-Chef mit. Und damit war der Abend noch nicht beendet. Nach der großen Aussprache im Plenum stellten vier Reporterinnen und Reporter aus den Ressorts Wissen, Dossier und Investigativ in Werkstattberichten mit vielen Fotos die Recherchen vor, die sie bis heute nicht mehr loslassen. Die Musik des Abends kam von der deutsch-mexikanischen Singer-Songwriterin Alin Coen (große Schwester der ZEIT-Kollegin Amrai Coen, deren Reportagen im Dossier zu lesen sind).

In Bildern und in Videos laden wir alle ein, die nicht in Frankfurt dabei sein konnten, das ZEIT-Leserparlament in Frankfurt in Ausschnitten nachzuerleben:

Zum Auftakt erzählte Chefredakteur Giovanni di Lorenzo in Frankfurt von anstehenden Neuerungen in der ZEIT-Redaktion. Ab Herbst sind größere Veränderungen in zwei Ressorts geplant.
Die Kolleginnen und Kollegen der Ressorts »Chancen« und »Wissen« sollen zu einem Team zusammenwachsen. In dem so entstehenden »Super-Ressort« werden dann Themen aus Wissenschaft, Bildung und Umwelt gemeinsam erzählt. Dadurch können gesellschaftlich komplexe Anliegen, wie etwa »lebenslanges Lernen«, gleichzeitig von mehreren Seiten betrachtet werden – institutionell, psychologisch ebenso wie neurowissenschaftlich.
Und ein neues Ressortteam nimmt sich ab September die bescheidene Aufgabe vor, den Streit zu »rezivilisieren«. Denn Giovanni di Lorenzo ist wichtig: »Obwohl Streit ja ein eher fragwürdiges Image hat, ist er nicht prinzipiell etwas Schlechtes. Er kann im politischen, gesellschaftlichen oder im privaten Bereich sowohl eine aufklärende, als auch eine reinigende Funktion haben.« Das klingt doch ziemlich passend – auch für die ZEIT.
Und da es beim Leserparlament auch darum geht, sich gegenseitig einmal persönlich kennen zu lernen, vergab Giovanni di Lorenzo an die anwesende Leserin, die die ZEIT am längsten liest – seit mehr als 50 Jahren – einen kleinen Dank.
Den größten Teil des Abends stellte sich der ZEIT-Chefredakteur den Fragen und Anregungen der Leserinnen und Lesern. Darunter auch dieser Wunsch: »Ich habe die Hoffnung, dass aus dem, was Sie mit dem Leserparlament begonnen haben, vielleicht ein neues Politikformat entstehen könnte. Das bundesweit aus unabhängigen Expertengremien besteht und zur Diskussion einlädt.«
Eine Frage, die besonders viele Leser schon vorab via Mail gestellt hatten: »Ist die ZEIT frei von jeglicher Einflussnahme? Gab es nicht schon Fälle, in den Politiker sich über die eine Überschrift oder den anderen Artikel bei Ihnen beschwert haben?«
Giovanni di Lorenzo: »Diese Zeiten gab es, aber inzwischen haben Politiker so schlechte Erfahrungen mit dem Einmischen gemacht, dass mir seit Jahren kein einziger Fall mehr bekannt ist. Wir sind in Deutschland, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, wie Italien oder Frankreich, in der glücklichen Lage, dass viele Blätter im Besitz von Verlegern sind, die sich raushalten. Wir sind auf eine befreiende Weise, für die ich sehr dankbar bin, unabhängig.«

Ein anderer Leser formulierte folgende Idee: »Ich lese die ZEIT seit 35 Jahren, merke aber, dass meine Lesefenster immer kleiner werden. Wie wäre es denn, mit einer >ZEIT kompakt<? Schließlich möchte ich nicht auf guten Journalismus verzichten.«

Giovanni di Lorenzo: »Uns ist völlig klar, dass nicht alle Leser jede Woche alles lesen können. Aber uns ist wichtig, dass jeder Leser, jede Woche, drei bis vier Artikel in der ZEIT findet, die er so nirgends sonst lesen kann. Unsere journalistische Herausforderung der nächsten Jahre wird es sein, unseren Leserinnen und Lesern neben wunderbaren Reportagen, Interviews und Meinungsstücken auch etwas anderes zu bieten: Mit Texten auf höchst einprägsame Weise eine Anleitung zum besseren Verständnis der Welt zu ermöglichen. Nicht noch mehr Haltung und Meinung, sondern mehr Kenntnisse sind gefragt. Schließlich kann man Demagogen und Populisten nur Kenntnis und Wissen entgegensetzen.«
Nach der direkten Aussprache im Leserparlament waren die Frankfurter aufgefordert, dem ZEIT-Chef Ihre Anregungen und Recherchefragen mitzugeben. Über 40 Aufträge hat Giovanni di Lorenzo nach Hamburg mitgenommen, um sie mit seiner Redaktion zu besprechen.
Es kamen dabei so viele Ideen der Leser zusammen, dass sie auf der Deutschlandkarte gar nicht alle Platz fanden. Die von Giovanni di Lorenzo ausgesuchten Vorschläge, werden aber weiter zu den kommenden Leserparlamenten reisen. Dort wird er über den Fortlauf berichten. Ebenso ist der ZEIT-Chef mit den Ideen der Leser verfahren, die schon im Herbst 2018 in Hamburg an ihn herangetragen wurden.
Aus dem Leserparlament 2018 in Hamburg wurden die hier aufgeführten Rechercheaufträge umgesetzt. Aus dem einen wurde eine Titelgeschichte in den Chancen.
Der zweite Rechercheauftrag aus Hamburg spiegelt sich in den Aktion der jungen Visionäre von Z2X wider, sowohl auf ZEIT ONLINE als auch bei einer Veranstaltung der Freunde der ZEIT in Düsseldorf. Am Rhein brachten wir junge Aktivisten und ältere Leser zum Erfahrungsaustausch zusammen.
Der richtige Umgang mit dem Klimawandel – Ein Thema, das den Leserinnen und Lesern auch schon im vergangenen Jahr am Herzen lag.
Nach nun fast zwei Stunden Rede und Antwort ging es für Leser und Journalisten in die verdiente Pause.
Die Erfrischung des Abends stiftete die Sektkellerei Geldmann.
Und in der Pause kam sogar kurz die Sonne raus, sodass die Leserinnen und Leser den Sekt im Freien genießen konnten.
Im Anschluss stellte Giovanni di Lorenzo den Gästen die Sängerin und Songwriterin Alin Coen vor.
Mit nachdenklich-poetischen Texten und der entschlossensten zarten Stimme bot die in Hamburg geborene Sängerin mit mexikanischen Wurzeln Momente der Innerlichkeit zwischen den Diskussionen des Abends.

Zur Kostprobe eine Stelle aus Alin Coens Lied »Alles was ich hab«:

»Meine Ecken, meine Kanten.
Immer haben sie bestanden.
Sie waren nie wegzufeilen.
Doch mit dir will ich teilen.
Was ich hab, und ich hab«

Im letzten Teil des Abends ging es dann um ganz besondere Tiefenlotungen der ZEIT-Journalisten. Es begannen die Dossier-Redakteure Malte Henk und Amrai Coen mit der wohl gefährlichsten Recherche ihrer beiden Karrieren: Sie erzählten davon, wie sie die Ebola-Epidemie in Westafrika rekonstruierten. Und wieso sie die Arbeit an dem Artikel über die globale Katastrophe bis heute nicht mehr loslässt, obwohl sie schon Jahre zurückliegt.
Stefan Schmitt, stellvertretender Leiter im Wissen-Ressort, ging in seinem Blitzvortrag der Frage nach: »Wie berichtet man über den Klimawandel, ohne zu belehren, zu alarmieren oder zu langweilen?«
Und Holger Stark, Mitglied der Chefredaktion und Leiter des Investigativressorts, gab Einblick in die Arbeit eines internationalen Investigativ-Teams, das versuchte die Hintergründe eines Mordfalles zu ergründen – Die Ermordung der Journalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta.
Inzwischen nach 22 Uhr blieb uns Hamburgern und einem Berliner (Holger Stark) am Main nur noch eines zu sagen: »Danke, Frankfurt!« v.l.n.r.: Wencke Tzanakakis, Alin Coen, Amrai Coen, Malte Henk, Stefan Schmitt, Holger Stark
Fotos: Ina Mortsiefer für DIE ZEIT

Die Geschichten hinter der Geschichte

Sehen Sie hier Videos der Werkstattberichte unserer Redakteure. Darin erzählen die Journalisten von Recherchen und Begegnungen, die bis heute nachhallen – zwischen Wissenschaft- und Krisenjournalismus bis hin zu einem tragischen Kriminalfall.

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