© privat

Moderatorin Julia Westlake über den Roman »Effingers« von Gabriele Tergit: 

»Dieser Roman ist einfach großes Kino«

 

Kürzlich gelesen habe ich »Effingers« von Gabriele Tergit: Spannend, informativ und ein echter Page-Turner, genau das Richtige für diese langen Lockdown-Tage! »Effingers« ist ein großer Familienroman des 20. Jahrhunderts, vergleichbar vielleicht mit den »Buddenbrooks«. Es geht um drei jüdische Familien und 70 Jahre deutscher Geschichte in der Zeit von 1878 bis 1948. Die Schriftstellerin Gabriele Tergit erzählt vom blühenden jüdischen Gesellschafts- und Kulturleben, das später so grausam ausgelöscht wurde, ihr Roman ist so etwas wie die Chronik einer untergegangenen Welt. Auch sie, die jüdische Journalistin und Schriftstellerin, musste 1933 vor den Nationalsozialisten ins Ausland fliehen, erst nach Palästina – und dann weiter nach London. Zum Zeitpunkt der Flucht hatte sie bereits mit der Arbeit an den »Effingers« begonnen. Und dann fast 20 Jahre daran geschrieben. Als sie nach dem Krieg begann, in Deutschland nach einem Verleger zu suchen, hatte sie allerdings zunächst keinen Erfolg. So kurz nach dem Krieg waren die Deutschen wohl noch nicht bereit für eine Auseinandersetzung mit der ausgelöschten jüdischen Kultur. 1951 erschien der Roman dann doch, leider verkaufte er sich schlecht. Und so geriet Gabriele Tergit völlig zu Unrecht in Vergessenheit. Nun erst, endlich, wurde ihr die Aufmerksamkeit zuteil, die dieser großen jüdischen Autorin gebührt. Der Roman gehört unbedingt zum deutschen literarischen Kanon – auch und gerade jetzt in Zeiten, in denen der Antisemitismus wieder zunimmt. Übrigens: Das Buch schreit förmlich danach, verfilmt zu werden – hoffentlich liegt schon irgendwo ein Drehbuch in der Schublade! Dieser Roman ist einfach großes Kino.

Was ist sonst so lese: Zuletzt hat mich der Däne Jonas Eika total begeistert mit seinen Erzählungen »Nach der Sonne« – fünf komplexe Geschichten mit einem ganz eigenen Sound, jung, radikal, klug! Und sehr angetan bin ich gerade auch von Michael Maars »Die Schlange im Wolfspelz«. Der Germanist und Kritiker schreibt unterhaltsam über die Geheimnisse großer Literatur, analysiert Werke von Goethe und Kleist bis zu Thomas Bernhard und Botho Strauß. Ein Must-read für alle Literaturfans!

 

Julia Westlake moderiert seit vielen Jahren das »Kulturjournal« auf NDR und seit Kurzem auch die Rateshow »Ich trage einen großen Namen« im SWR. Ihre Sendung »Bücherjournal«, die älteste Literatursendung des deutschen Fernsehens, wurde Ende 2020 eingestellt.

Jetzt zum Newsletter »Was wir lesen« anmelden

  • Persönliche Buchempfehlungen von Journalisten, Künstlerinnen, Politikern und Leserinnen und Lesern
  • Verlosungen der spannendsten Neuerscheinungen
  • Kostenlose Hörbücher und Leseproben
  • Einladungen zu exklusiven Veranstaltungen mit Autorinnen und Autoren
  • Jede Woche, kostenlos in Ihrem Postfach

Aktuelle Buchempfehlungen

Aus unserer Leserschaft