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Der Musiker Wolfgang Niedecken über den Roman »Crossroads« von Jonathan Franzen:

»Ein großes Familienepos, sensationell gut geschrieben.«

 

Zurzeit lese ich mit Begeisterung »Crossroads« von Jonathan Franzen, und zwar nachts. Wie viele ältere Menschen werde ich nachts manchmal wach, und anstatt zu grübeln, lese ich. Mit einer kleinen Taschenlampe. Meine Frau hat eine Schlafmaske auf. Ich ärgere mich dann, wenn ich wieder müde werde, weil ich eigentlich weiterlesen möchte. Komm, denke ich, ein Kapitel schaffst du doch noch …?
»Crossroads also«. Ein großes Familienepos, sensationell gut geschrieben. Dieses Buch fasziniert mich noch mehr als Franzens »Korrekturen«. Hier sitzt alles. Dabei ist das Thema nicht einmal besonders originell, Familie eben. Was passiert, ist zunächst auf einen einzigen Tag konzentriert, im Dezember 1971.
Russ Hildebrandt, ein Pfarrer, leidet an einer Midlifecrisis. Er ist auf dem Absprung, und Marion, seine Frau merkt, dass er einer jungen Witwe aus seiner Gemeinde nachsteigt. Auch Marion ist unglücklich, bitter, traumatisiert durch ein Erlebnis, das über 20 Jahre zurückliegt. Geht zu einer Therapeutin, obwohl sie sich das finanziell eigentlich nicht erlauben kann.
Vier Kinder hat das Paar, Clem, Perry, Judson und Becky. Clem, der älteste Sohn, ist 1951 geboren, also mein Jahrgang. Ich weiß noch, wie man sich in der Zeit damals fühlte, wie man da so unterwegs war. Der Vietnamkrieg war noch nicht beendet, und Clem hält den Vater für scheinheilig. Clem hält es für ein Privileg der Reichen, sich vom Kriegsdienst zurück­stellen zu lassen, denn die Ärmeren konnten sich das nicht leisten. Er widerruft seine Zurück­stellung, will tatsächlich nach Vietnam. Als moralische Haltung.
Perry, der zweite Sohn, handelt mit Drogen. Dann kommt der Jüngste, Judson, neun Jahre alt, und die hübsche Tochter Becky, die achtzehn Jahre alt ist.
Becky versucht, den Gitarristen einer lokalen Band klarzumachen. Das erinnert mich an die Zeit, als ich in meiner ersten Band gespielt habe. Hier kann ich wunderbar eintauchen, da steh ich mittendrin – als wenn man mich erwischt hätte.
Diese sechs Menschen laufen einander an diesem Tag immer wieder über den Weg. Alle sind irgendwie bemüht, gut zu sein, und jeder beobachtet etwas, das ihn eigentlich nichts angeht. Das ist meisterhaft konstruiert. Franzen beleuchtet jeweils den Blickwinkel einer Person, und alles setzt sich im Kopf des Lesers wie ein Puzzle zusammen, ohne dass es bewertet wird. Der Roman ist kein Beipackzettel, der dem Leser sagt, was davon zu halten ist.
Hildebrandt, der Name dieser Familie, klingt sehr deutsch, und ich habe sofort an all die Hildebrandts gedacht, die ich kenne. Amerika ist eben ein Einwanderungsland. Die Deutschstämmigen bilden mit 50 Millionen immer noch die größte ethnische Gruppe in den USA, noch vor den irisch- oder englischstämmigen Amerikanern.
»Crossroads« soll ja der Auftakt einer Trilogie sein, »ein Schlüssel zu allen Mythologien«. Ich bin jetzt schon gespannt, was da in den nächsten Jahren passiert.

Ob dieses Buch gerade jetzt aktuell ist? Ja, der Roman passt in diese Zeit. Wir stehen wieder an einer Art Scheideweg.
»Crossraods« ist ein Song von Robert Johnson, der davon handelt, dass er auf einer Kreuzung mit dem Teufel einen faustischen Pakt geschlossen hat. Von Cream gespielt, ist »Crossroads« weltweit bekannt geworden. Im Buch gibt es eine Jugendgruppe, von einem jüngeren Pfarrer ins Leben gerufen. Diese Gruppe nennt sich »Crossroads«. Sie haben Rituale, wo sie einander unter vier Augen gestehen, worunter sie leiden. In diesem Zusammenhang kommt auch der Song vor.

Was ich sonst so lese? Sehr gern immer wieder mal was von Heinrich Böll. In Sachen Literatur war Böll der Urknall für mich. Wir lasen »Ansichten eines Clowns« in der Schule, und plötzlich habe ich zugehört, das war irre. Als wenn er es für mich geschrieben hätte. Ich habe dann so ziemlich alles von Böll gelesen, und zwei Jahre vor seinem Tod habe ich ihn persönlich kennengelernt.
Wenn ich Böll lese, ist es so, als ob er mir vorliest. Ich höre seine Stimme. Manchmal ist mir danach. Ich habe die 27-bändige Kölner Gesamtausgabe, in der alles drin ist. Letztens habe ich mir noch mal »Billard um halb zehn« vorgenommen, das gewissermaßen im Severinsviertel spielt, denn den Dom ersetzt Böll durch die Severinskirche. Er hielt die romanischen Kirchen in Köln für viel bedeutender, deshalb hatte er Probleme mit dem übermächtigen Dom. Den nannte er »die Preußen-Kirche«. Das Cover vom BAP-Album »Alles fließt« haben wir trotzdem auf dem Vierungsturm des Doms aufgenommen.

Wolfgang Niedecken, geboren 1951, ist als Songwriter, Sänger, Gitarrist, Künstler, Autor, unentbehrlich – nicht nur für BAP, die legendäre Kölschrock-Band. Und das Besondere: Er ist dabei – selbst als mittlerweile zweifacher Großvater – frisch, engagiert und locker geblieben. Einmal im Monat ist er auf WDR 4 in der Reihe »Songpoeten« zu hören und gibt Auskunft über die Musik, die ihn geprägt hat.
Neben unzähligen Auszeichnungen hat er das Bundesverdienstkreuz für sein gesellschaftliches Engagement verliehen bekommen und den Paul-Lincke-Ring, als »prägender Kopf der deutschen Rockmusik«. Niedecken selbst ist nicht der aller­größte Fan des Karnevals, und anders als viele Kölnerinnen und Kölner leidet er derzeit nicht unter Entzugserscheinungen. Was daran liegen könnte, dass Köln zwar seine Basis, sein Horizont aber unendlich ist. Seine beiden Autobiografien »Für ’ne Moment« und »Zugabe. Die Geschichte einer Rückkehr« erschienen 2011 und 2013. Mit seinem Buch über Bob Dylan ist er 2021 auf Sing- und Lesereise gegangen. Am 25. März erscheint die »DYLANREISE« als Dreifach-CD.

 

Crossroads

Von Jonathan Franzen (2021)

Eines der meistbesprochenen Bücher des vergangenen Jahres: der Roman »Crossroads« des amerikanischen Schrift­stellers Jonathan Franzen. Und auch ZEIT-Redakteur Adam Soboczynski urteilt im September 2021 in der ZEIT: »Jonathan Franzen hat einen großen Roman über den Ursprung unserer Gefühle geschrieben.« Es ist ein Roman über eine Familie am Scheideweg: über Sehnsucht und Geschwister­liebe, über Lügen, Geheimnisse und Rivalität. Es ist der Auftakt einer Trilogie über drei Generationen einer Familie aus dem Mittleren Westen und eines der größten literarischen Projekte dieser Zeit. »Crossroads« wurde von Bettina Abarbanell ins Deutsche übersetzt.

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