Dankesworte zum Marion-Dönhoff-Preis 2021 von Hauptpreisträger Gerhart Baum

 

Ich habe mich gefreut – ich habe mich sehr gefreut. Ich danke der Jury, an der Spitze Herrn Nass. Herrn di Lorenzo für die ZEIT und Herrn Göring für die ZEIT-Stiftung. Besonders danke ich Robert Leicht für seine Würdigung. Es ist eine wunderbare Anerkennung, die ich in meinem 90. Lebensjahr erhalte, in einer Lebensphase, die Goethe als „vorschwebende Zeit“ bezeichnet hatte, ohne damit den Verzicht auf Neugier und Tätigkeit zu verbinden. Beides ist auch für mich heute noch Lebenselixier.

Die ZEIT und ihre Journalisten standen mir in all den Jahrzehnten in ihren Grundüberzeugungen nahe. Das gilt in besonderer Weise für Gräfin Dönhoff, dieser mutigen herausragenden Persönlichkeit und Journalistin. Sie hat als Journalistin die ZEIT geprägt, und auch maßgeblich die Meinung in unserer Republik. Ich nenne nur eine entscheidende Phase der Nachkriegspolitik: die neue Deutschland- und Ostpolitik. Ihr Plädoyer für eine Aussöhnung mit Polen hatte in der damaligen polarisierten politischen Lage eine große Wirkung. Auch wir Jungen in der FDP kämpften gegen die Nationalliberalen in unserer Partei. Wir waren überzeugt, dass die Absage an jede Form von Revanchismus die Voraussetzung für eine neue Friedensordnung in Europa war. Die Aussöhnung mit Polen war das Herzstück der Ostpolitik von Brandt und Scheel und Voraussetzung für die Befreiung Osteuropas und der DDR. Die ZEIT hat wesentlich für dieses Ziel geworben mit Gräfin Dönhoff und Journalisten wie Theo Sommer, Rolf Zundel und Robert Leicht. Man kann sich vorstellen, dass Gräfin Dönhoff heute ihre Überzeugungskraft und das Gewicht ihrer Erfahrung nutzen würde, um Polen, das jahrzehntelang unter dem Verzicht auf Freiheit gelitten hatte, daran zu hindern, diese neuen Freiheiten abzubauen. Und sie würde Europa stärken wollen.

Unser Thema heute: der Schutz der Menschenrechte, das war auch Gräfin Dönhoffs Thema. Sie bezog es nicht nur auf Europa. Mein Freund Burkhard Hirsch und ich trafen sie bei unseren Reisen in Sachen Menschenrechte unvermutet in einem Hotel in Kapstadt. Sie war gegen die Apartheid unterwegs, so wie wir auch.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 postuliert die Herrschaft des Rechts gegen das Recht des Stärkeren. Sie ist, wie es in der Präambel heißt, bestimmt durch die bitteren Erfahrungen, dass „Akte der Barbarei im letzten Jahrhundert „das Gewissen der Menschheit zutiefst verletzt hatten“. Und dieses Gewissen wird auch heute immer wieder verletzt. Kant sagte sinngemäß, er empfinde den Angriff auf die Menschenwürde irgendeines Menschen irgendwo auf der Welt so, als würden sie ihm geschehen.

Ich freue mich, dass heute auch die Menschenrechtsorganisation Wjasna aus Belarus ausgezeichnet wird. Das ist eine Ermutigung für ihre langjährige engagierte Arbeit. Die brutale Diktatur des abgewählten Präsidenten Lukaschenko tritt die Menschenwürde mit Füßen. Welche Hoffnung war mit den beeindruckenden Demonstrationen verbunden, an deren Spitze Frauen standen. Ich bewundere sie alle. Besonders erwähnen möchte ich Maria Kalesnikava. Denken wir einen Moment lang an sie, wie sie jetzt – gerade verurteilt zu 11 Jahren Haft – in einer elenden Gefängniszelle in Minsk gedemütigt wird, und das seit mehr als einem Jahr. Diese fröhliche, vitale, kämpferische Person, die viele mitgerissen hat in ihrem Kampf für die Freiheit, als Patriotin in Liebe zu ihrem Land. Sie wollte ihre Mitstreiter und Mitstreiterinnen in der Opposition nicht in Stich lassen und blieb im Lande. Ihren Mut bezahlt sie mit ihrer Freiheit. Meine Frau und ich, die wir sie auch als Musikerin in Stuttgart kannten, haben ihr in diesem Jahr den Menschenrechtspreis unserer Stiftung, der Gerhart und Renate Baum-Stiftung, zuerkannt. Zurzeit starten wir eine neue Aktion unter dem Motto „Fokus Belarus – Anwälte helfen Anwälten“. Damit wollen wir deutsche Anwälte bewegen, für ihre verfolgten, inhaftierten oder mit Berufsverbot belegten belarussischen Kollegen und ihre Angehörigen zu spenden. Der Geldbetrag, der für mich mit dem Dönhoff-Preis verbunden ist und für den ich sehr danke, soll in diese und andere Menschenrechtaktivitäten fließen.

Unsere Verbundenheit gilt auch Alexei Nawalny und seinen Mitstreitern. Auch er bezahlt seinen Mut zur Rückkehr nach Russland mit der Freiheit. Was für mich, gemeinsam mit der Naumann-Stiftung, jahrelang möglich war, in Veranstaltungen überall in Russland für die Menschenrechte zu werben, das ist heute zum kriminellen Akt geworden. Nawalnys Organisation ist verboten worden und nun wird auch Memorial verboten werden. Das ist ein schwerer Schlag für diese wunderbaren mutigen Frauen und Männer, die ich bei meinen Reisen durch Russland mehrfach treffen durfte. Das Bemühen, die stalinistischen Verbrechen aufzuklären und die Opfer zu rehabilitieren – das ist unverzichtbar. Memorial hat das stalinistische Unrecht und die heutige politische Verfolgung in vielen Aktionen – auch mit Jugendlichen – zum Thema gemacht. Nun wird Memorial kriminalisiert. Bezeichnendes Symbol sind die Handschellen, mit denen die Polizei die Flügeltür zum Haus von Memorial zusperrte. Memorial und andere werden wie seinerzeit unter den Sowjets zu „Volksfeinden“.
Wir wissen, es ist die russische Führung, die auch großen Einfluss hat auf die Lage in Minsk hat, indem sie Lukaschenko stützt. Die sogenannten „Russland-Versteher“ bei uns sollten Russland so verstehen wie Nawalny sein Land versteht, nämlich autoritär nach innen und aggressiv nach außen.

Wir reden über Menschenrechtsverteidiger, über Menschen, die weltweit ihre Freiheit und auch ihr Leben aufs Spiel setzen für die Freiheit der anderen. „Wir werden frei geboren, um frei zu sein,“ sagte Hannah Arendt. Wenn wir aber in bestimmten Situationen von der Freiheit Gebrauch machen, dann verlieren wir sie. Ich war für die Bundesrepublik am Zustandekommen einer VN-Deklaration zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger beteiligt, die von der Generalversammlung 1998 einstimmig verabschiedet wurde. Mit einer weltweiten Aktion der Naumann-Stiftung wollen wir sie wiederbeleben. Auch wenn diese Deklaration bis heute vielfach verletzt wird: Aber diese Selbstverpflichtung der Völkergemeinschaft ist festgeschrieben, wie auch anderes im Völkerrecht, auf das wir uns berufen können, z.B. auf das Folterverbot.

Nun ist es leichter zu protestieren als zu handeln. Wir leben in einem freien Land. Umso mehr sollten wir Verbündete derjenigen sein, die nicht dieses Glück haben. Menschenrechte bestimmen die auswärtigen Beziehungen nicht allein. Aber sie gehören dazu, diese Politik muss ins Spiel kommen. Friedenspolitik, Hilfe bei Demokratieaufbau und Entwicklung.

Wie kann man in den verschiedenen Situationen Verbesserungen erreichen, ohne sich zu verleugnen. Das ist ganz mühsam. Die Menschenrechte sind als Querschnittsaufgabe internationaler Politik stärker geworden, trotz aller Rückschläge. Die Welt ist auf dem Weg vom „Staatenrecht“ zum „Recht der Weltbürger“ und auch zur Verantwortung einzelner für begangene Menschenrechtsverletzungen. Sie müssen sich vor den Internationalen Strafgerichtshöfen verantworten und neuerdings auch vor unseren Gerichten. Das ist das aufregend Neue. Es ist mit dem neuen Völkerstrafrecht möglich, dass ein syrischer Kriegsverbrecher vom Generalbundesanwalt angeklagt und von einem Gericht in Koblenz verurteilt wird wegen Taten an seinen Landsleuten in seinem Land. Und so könnte das auch mit den politisch Verantwortlichen in Belarus geschehen, wegen der massiven Rechtsverletzungen wie Mord, schwerwiegender Freiheitsberaubung und politischer Verfolgung. US-Präsident Biden will den diesjährigen Menschenrechtstag am 10. Dezember für eine weltweite Aktion für Demokratie und Menschenrechte zum Anlass nehmen. Die neue deutsche Regierung sollte sich erkennbar beteiligen.

Ich war und bin auf unterschiedlichen politischen Feldern tätig. Sie lassen mich einfach nicht los. Der Kampf gegen den Sicherheitswahn, das ist eines meiner Lebensthemen, entsprechend meiner lebenslangen Prämisse, nach der Nazibarbarei Freiheit zu verteidigen, auszubauen und zu ermöglichen. „Im Zweifel für Freiheit“, war das Motto meines Freundes Werner Maihofer. Aber eben keine ungehemmte Freiheit: Freiheit in Verantwortung. „Freiheit“ habe ich mein Buch genannt, in dem ich aktuellen Freiheitsgefährdungen nachspüre: ich meine Systemverachtung – d.h. Verachtung der Demokratie und ihrer Spielregeln -, Rechtsextremismus, Verachtung von Minderheiten, Rassismus, Antisemitismus.

Noch ein Hinweis auf eine wichtige, aber bisher nicht genug beachtete Gefährdung der Menschenwürde durch einen weltweiten Überwachungskapitalismus und Tendenzen zum Überwachungsstaat, also auf die Nachtseite der Digitalisierung: Der gerade ausgeschiedene Bundesverfassungsrichter Johannes Masing hat diese Gefahren in seiner Abschiedsrede benannt und bringt sie auf den Punkt, wenn er sagt : „Heute erlauben Datenspuren jeden Schritt bis hin zu den Wünschen und Gedanken im Detail nachzuzeichnen… das erlaube Konzernen, über private Lebenschancen zu entscheiden“ und ermögliche „eine tiefgreifende Gesellschaftssteuerung“. Ja, hier Freiheit zu behaupten, das ist eine große bislang unerledigte Aufgabe. Die ZEIT-Stiftung hatte dazu vor einigen Jahren mit einer „Charta für digitale Grundrechte“ eine bemerkenswerte Initiative unternommen. Sie ist noch heute aktuell, ja noch dringender.

Wir befinden uns in einem Prozess des Umbruchs mit weltweiten Krisen und neuen Machtkonstellationen. Wir müssen eine Tendenz zum Autoritären feststellen, wie Dahrendorf sie diesem Jahrhundert vorausgesagt hat. Am 14.11.1997 schrieb er in der ZEIT einen Artikel mit der Überschrift: „Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit“. Der Raubbau an den Lebensgrundlagen unseres Planeten gehört auch zu diesen Herausforderungen. Dies und vieles andere war vorhersehbar, aber wurde nicht zum politischen Thema.

Das gilt auch für die Pandemie. Sie zwingt uns zu überdenken, was in dieser Situation Freiheit bedeutet. Worauf gründet sich der Grundrechtsschutz in der pandemischen Ausnahmesituation einer Naturgefahr bisher nicht gekannter Dimension. Der Philosoph Jürgen Habermas geht dieser Frage nach. Er sieht im Grundgesetz eine Rechtspflicht des Staates, die Menschen vor Tod und empfindlichen Gesundheitsgefahren zu bewahren. In einem unserer Verfahren in Karlsruhe hat mein verstorbener Freund Hirsch argumentiert: der Verlust des Lebens ist der totale Freiheitverlust. Er wiegt schwerer als alle anderen Freiheitsbeschränkungen. Diese Grundsatzdiskussion ist im Trubel der letzten Monate viel zu kurzgekommen, obwohl Habermas sie schon im Mai 2020 in der ZEIT begonnen hatte.

Und dennoch sind die Freiheitskräfte auch in unserem Land stark. Sie sind in der letzten Bundestagswahl auch bei den jungen Wählern erkennbar geworden. Die Notwendigkeit, auch bei Bekämpfung des Klimawandels eine Beziehung zur Freiheit herzustellen ist kürzlich durch eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck gekommen. Es ist das Bekenntnis zu einer „intertemporären Freiheitssicherung“. Die Lasten der Klimabekämpfung sollten auch zeitlich gerecht auf die verschiedenen Generationen aufgeteilt werden. Dieses Defizit musste der Gesetzgeber beseitigen.

Wir erleben eine neue Phase der deutschen Politik, in der sich die ökologischen, sozialen und an der Freiheit des Individuums und des Marktes orientierten Ziele zu einem neuen Aufbruch zusammengefunden haben. Das macht mir Hoffnung.