Laudatio auf den Hauptpreisträger des Marion-Dönhoff-Preises 2021 Gerhart Baum

von Bundesminister a. D. Sigmar Gabriel

 

Sehr geehrter, lieber Herr Baum,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

Gestatten Sie mir, dass ich an den Beginn dieser Rede einen Schlusssatz stelle. Er stammt von Max Weber, der damit seinen berühmten Essay „Politik als Beruf“ beendete. Weber, einer der intellektuellen Gründerväter des deutschen Linksliberalismus, schrieb damals, vor gut hundert Jahren (1919) – ich zitiere: „Nur wer sicher ist, daß er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, daß er all dem gegenüber: „dennoch!“ zu sagen vermag, nur der hat den „Beruf“ zur Politik.“ Sie, lieber Herr Baum, haben wahrlich diesen Beruf! Denn Sie haben seit dem Ende der sozial-liberalen Koalition 1982 „dennoch!“ in die deutsche Politik gerufen – laut und vernehmlich! Immer dann, wenn der soziale Liberalismus als politisch zukunftslos bezeichnet wurde. Immer dann, wenn ihm die Regierungsfähigkeit abgesprochen wurde – nicht zuletzt innerhalb ihrer eigenen Partei, der FDP. Sie haben für diese Überzeugung Ablehnung und Ausgrenzung, manchmal sogar politische Einsamkeit erfahren. Aber zerbrochen sind Sie nicht. Im Gegenteil.

Und so kommt es, dass Sie und wir alle heute, fast 40 Jahre später, wieder den Beginn einer neuen sozialliberalen Regierungszeit erleben. Denn Beginn einer „Fortschrittskoalition“. Einer Koalition, die das Soziale mit dem Liberalen verbinden will – zusammen mit dem Ökologischen. „Wir wollen mehr Fortschritt wagen.“ ist das Motto der sogenannten „Ampel“-Regierung – und damit natürlich eine sehr bewusste Reminiszenz an das berühmte Diktum von Willy Brandt; eine Hommage an die sozialliberale Koalition seiner Zeit. Selbst Christian Lindner hat bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages einen waschechten Sozialdemokraten aus dieser Ära zitiert, nämlich Egon Bahr – und zwar ohne rot zu werden, in jeder Hinsicht! Das alles zeigt: Es gibt eine echte Chance auf eine neue sozialliberale Ära in Deutschland!

Lieber Herr Baum,
damit schließt sich auch auf beeindruckende Weise ein Kreis Ihres politischen Wirkens. Denn das ideenpolitische Fundament für diese Ära haben Sie selbst mit gelegt – vor fast genau 50 Jahren. Damals, im Oktober 1971, erlebte der soziale Liberalismus in Deutschland eine Sternstunde: Bundeskanzler Willy Brandt wurde für die Ostpolitik seiner SPD/FDP-Regierung mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Und nur wenige Tage später beschlossen die Freien Demokraten ihr neues Parteiprogramm – die „Freiburger Thesen“. Sie, lieber Herr Baum, waren damals gemeinsam mit Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer einer der wichtigsten Köpfe hinter diesem programmatischen Meilenstein.

Damals wie heute stand die Bundesrepublik vor einer „doppelten Reformnotwendigkeit“, wie sie es genannt haben: Es ging um neue Impulse in der Außenpolitik angesichts der deutschen und europäischen Teilung im Kalten Krieg. Um Aussöhnung und Frieden. Und es ging um innenpolitische Reformen vor dem Hintergrund der immensen gesellschaftlichen Umwälzungen in der damaligen Bundesrepublik. Um das Ende der Nachkriegszeit. Der „Soziale Liberalismus“, der in Freiburg Gestalt annahm, wollte die liberale Agenda aus der Nische in die Mitte der Gesellschaft bringen – und auf die Höhe der Zeit. Für Sie war immer klar: Freiheit hat Voraussetzungen!

Der „Soziale Liberalismus“ hatte den Anspruch, eine freie Wirtschaft mit den Freiheitsrechten der Bürger und sozialer Verantwortung in Einklang zu bringen. Als Reformliberale thematisierten Sie und ihre Mitstreiter Kapitalismuskritik genauso wie Sozialpolitik und Verteilungsfragen. Ihnen ging es um Fragen der Emanzipation genauso wie um eine moderne Bildungs- und Rechtspolitik. Und nicht zuletzt setzen Sie schon damals das Thema Umweltschutz auf die Tagesordnung. Ein Thema, für das sie sich auch in Ihrer Amtszeit als Bundesinnenminister engagiert haben. Lange bevor es das Bundesumweltministerium als eigenständiges Ressort überhaupt gab. Damit waren Sie Ihrer (und übrigens auch meiner) Partei voraus, die diese existenziellen Fragen viel zu lange viel zu wenig wahr- und ernstgenommen hat.

Lieber Herr Baum,
„Im Zweifel für die Freiheit!“ – das ist der Spirit der „Freiburger Thesen“ und die Überschrift für Ihr politisches Lebenswerk geworden. Sie standen immer für eine empathischen Freiheitsbegriff, den sie immer wieder entschlossen verteidigt haben – gegenüber allzu staatsgläubigen, und auch gegenüber allzu marktgläubigen Positionen. Freiheit, das ist für Sie nie ein Synonym für Regel- oder gar Rücksichtslosigkeit gewesen. Das marktradikale Paradigma, häufig auch so furchtbar schief als „neoliberal“ apostrophiert, war für Sie vielmehr ein Missverständnis von Freiheit. Denn auch der Markt müsse „ethisch gebändigt“ werden, wie Sie es einmal formuliert haben. Auch diese Perspektive verband Sie mit Marion Gräfin Dönhoff. Denn auch die Gräfin– wie Sie jedem Marxismus gänzlich unverdächtig- hat immer wieder auch die Selbstbeschränkung der Freiheit und eine „Zivilisierung des Kapitalismus“ eingefordert. Und schon gar nicht wollten Sie, dass Freiheit als ideologische Camouflage missbraucht wird für den Abschied von der Solidarität in unserer Gesellschaft. Dass sie verengt und verzwergt wird auf eine kleingeistige Freiheit vor dem Finanzamt.

Gegen diese unterkomplexe Deutung eines so kostbaren Gutes haben Sie sich immer mit aller Entschiedenheit verwahrt. In einem Interview haben Sie es kürzlich auf den Punkt gebracht: „Liberalismus bedeutet für mich: mehr Solidarität, mehr Gerechtigkeit und mehr Gemeinschaft.“ Damit haben Sie in Ihrer aktiven Zeit den Freiheitsbegriff in der Bonner Republik nachhaltig mitgeprägt: als langjähriger Bundestagsabgeordneter und natürlich als Bundesinnenminister. Damals erschütterte im sogenannten „Deutschen Herbst“ der Terrorismus unser Land. Damals standen Sie, lieber Herr Baum, dafür ein, dass Freiheit und Sicherheit in der Bundesrepublik nicht zu Gegensätzen wurden. Ich erinnere an Ihre mutigen Entscheidungen zum Datenschutz oder zum Radikalenerlass, mit denen Sie sich in harte politische Kontroversen begaben – immer mit offenen Visier. Heinrich Böll, der große kritische Beobachter der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, nannte sie in der ZEIT den „besten Innenminister, den wir je hatten.“

Lieber Herr Baum,
das Ende der sozialliberalen Koalition 1982 durch den Lagerwechsel Genschers zur Union bedeutete für Sie nicht nur eine bittere politische Niederlage. Es bedeutete für Sie als Sozialliberalen auch eine Diaspora-Erfahrung in der eigenen Partei. Zwischenzeitlich – und das ist trotz aller Ampel-Euphorie noch gar nicht so lange her – galt in manchen Kreisen der FDP der Linksliberalismus als vermeintlich überkommene Folklore, ja nahezu als Schimpfwort. „Nach 22 Jahren wandte sich meine Partei von mir ab.“, so haben sie die Situation von 1982 beschrieben.

Wie tief Sie das geschmerzt haben muss, glaube ich ein bisschen ahnen zu können. Ein leidenschaftlicher Streiter für die Freiheit sind Sie jedoch auch ohne Amt und Mandat geblieben – bis heute. Nur wählten Sie seitdem andere Mittel: Statt der Politik das Recht, statt dem Plenarsaal den Gerichtssaal, statt Berlin immer wieder Karlsruhe. Bei Ihren erfolgreichen Interventionen gegen den „Großen Lauschangriff“ und das Luftsicherheitsgesetz, gegen die heimliche Online-Durchsuchung privater Computer oder die Vorratsdatenspeicherung ging es Ihnen um sehr Grundsätzliches: Für Grundrechte und Bürgerfreiheit, gegen Überwachungsstaat und Überwachungskapitalismus. Gerade die gesellschaftlichen Risiken der Digitalisierung haben Sie immer wieder kritisch in die Debatte gestellt, vor „digitaler Unmündigkeit“ und der Macht der gigantischen Tech Konzerne über unser Leben gewarnt. Keineswegs aus kulturpessimistischer Technikfeindlichkeit – sondern aus Sorge um unsere Freiheit, die sich angesichts der digitalen Staats-, Markt- und Meinungsmächte in immer neuer Weise herausgefordert sieht.

Lieber Herr Baum,
Freiheit als universeller Wert der Menschheit ist unteilbar. Für Sie war daher auch immer klar, dass Ihr Engagement für die Freiheit nicht national begrenzt sein durfte. Immer wieder sind Sie eingetreten für Menschen- und Bürgerrechte auch außerhalb Deutschlands. In den 1990er Jahren fungierten Sie als Chef der deutschen Delegation in der UNO-Menschenrechtskommission. In zahlreichen Krisengebieten auf unserem Globus trafen Sie Freiheitskämpfer, sprachen ihnen Mut zu, sorgten dafür, dass ihre Stimme in der Welt gehört wurde. Auch in Ihrer Eigenschaft als UN-Sonderbotschafter für den Sudan (2001-03) waren die Menschenrechte für sie Leitmotiv und Herzensthema. Der internationalen Staatenwelt und auch der deutschen Öffentlichkeit haben Sie damals durchaus die Leviten gelesen: Immer dann, wenn Sie bequemes Wegschauen oder zynischen Opportunismus, getarnt als Realpolitik, zu erkennen glaubten. Genauso haben Sie die Stimme erhoben, um die zu unterstützen, die sich dem Druck einer übermächtigen Staatsgewalt ausgesetzt sahen. Ihre Solidarität gilt Menschen wie Alexej Nawalny in Russland oder Maria Kalesnikava in Belarus, die sich für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie in ihren Heimatländern einsetzen.
Sie gilt Menschen wie Julian Assange und dessen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Eine Initiative, die wir beide gemeinsam unterstützen.

Lieber Herr Baum,
die Jury ehrt Sie heute für Ihren „lebenslangen Einsatz im Dienst der Menschlichkeit und Gerechtigkeit.“ Marion Gräfin Dönhoff hat einmal ein Buch geschrieben über „Menschen, die wissen worum es geht.“ (1976) Diese Menschen beschrieb sie folgendermaßen. (Ich zitiere): „Sie haben alle eins gemeinsam. Sie sind ganz echt – sie lassen sich nicht vom Zeitgeist oder von Werbeagenturen stilisieren. Sie machen keine Konzessionen an Publikum, Mode, Karriere. Sie sind ohne Furcht. Sie folgen ihren eigenen Maßstäben und ihrer Intuition.“ Menschen wie Sie, lieber Herr Baum.

Zum Marion-Dönhoff-Preis 2021 gratuliere ich Ihnen von Herzen!